Thomas Meinecke kommt wegen International Anthem zu Enjoy Jazz

Jahrzehnte lang habe ich in meiner Radiosendung beim Bayerischen Rundfunk (dem an ein jugendliches Publikum adressierten „Zündfunk“) aktuelle, relevante, herausragende und -fordernde Schallplatten vorgestellt. Im Vergleich zu meinen häuslichen Hörgepflogenheiten blieb Jazz dabei lange Zeit unterrepräsentiert. Es kam mir stets vor, als sei es gewissermaßen ein Privatproblem, dass ich seit dem Beginn meiner Pubertät (da hing ein Plakat von Bix Beiderbecke über meinem Bett) nie aufgehört hatte, Jazz zu hören, zu bewundern und zu verehren. Mit 15 hatte ich Thelonious Monk live gesehen (kurz bevor er für immer verstummte). In den frühen 1980er Jahren war Sun Ra der erste Musiker, den ich für das Radio interviewte. Und dessen Platten spielte ich auch in meiner Sendung. Das Sun Ra Arkestra besaß eine Relevanz, die sich wunderbar mit der Post Punk Music, die ich damals als aktuelle Strömung verfolgte, zum Einsatz bringen ließ. Später fand ich in Carl Craigs Detroit Techno (wenngleich programmiert) strukturell das, was mir Jazz bedeutete, in Theo Parrish sogar ein Äquivalent zu Monk (das hatte ich auch im Delta Blues bei Junior Kimbrough gefunden), was alles bestens zu den aufkommenden Diskursen über den postkolonialen Black Atlantic passte. Und logisch kamen immer wieder Perlen wie die Alben Georgia Anne Muldrows heraus, die absolut up-to-date waren. Aber es dauerte noch länger, bis ich ganze Sendungen mit Alben, die explizit als Jazz verstanden werden wollten, füllte. Es ist das Chicagoer „International Anthem“ Label, das mir auf Anhieb den Atem raubte mit seinen sowohl innovativen, als auch im Jazz-Kanon zu verortenden Veröffentlichungen etwa von Jamie Branch, die vor wenigen Wochen jung verstarb (und am 10. Oktober in Ludwigshafen gespielt hätte), dem unvergleichlichen (viel mehr als nur) Trompeter Ben Lamar Gay, für dessen Konzert ich am 3. November nach Mannheim reisen werde, wie auch für Makaya McCraven am 10. November. Alabaster dePlume veröffentlicht ebenfalls auf „International Anthem“, ich würde sagen: „Jazz / not Jazz“. Auch sehr toll. Der spielt am 12. Oktober in Ludwigshafen.

Thomas Meinecke, geboren 1955 in Hamburg, ist Schriftsteller, Musiker und Radio-DJ. Er war schon mehrfach beim Enjoy Jazz Festival zu Gast, zuletzt 2019 als Gesprächspartner von Festivalleiter Rainer Kern in der Reihe „Learn to Enjoy Jazz“.