Carla Bley ist eine der wichtigsten Komponistinnen der Jazzgeschichte. Anlässlich eines Trio-Konzerts bei Enjoy Jazz 2013 ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch. Zu einem sehr besonderen Gespräch, wie sich schnell zeigen sollte. Denn Carla Bley brachte ihren Lebensgefährten, den Bassisten Steve Swallow, gleich mit. Beide verbindet neben der Musik auch eine einzigartige Form von Humor und Esprit. So wollte Swallow eigentlich nur zuhören, aber … (Interview von 2013)
Der Einfluss, den Sie mit ihrer Musik insbesondere auf junge Leiter größerer Ensembles ausüben, ist enorm. Trotzdem ist bekannt, dass es für Sie nicht immer leicht war und ist, mit ihrer Musik durchzudringen. Würden Sie sagen, Sie haben stets den Respekt entgegengebracht bekommen, den Sie und Ihre Arbeit verdient haben?
CB: Man hat mir sogar immer mehr Respekt entgegengebracht, als ich verdient habe. Ich kann es kaum glauben, dass mich diese Musik nun schon mein ganzes Leben begleitet, dass ich das machen darf. Niemand hat mich jemals deswegen angefeindet. Oder ich habe es nicht bemerkt. Alle waren immer sehr zuvorkommend. Und was mir besonders wichtig ist: Die Musiker, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben immer geliebt, was wir getan haben. Ich habe wirklich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Mit Ausnahme der allerersten Anfangszeit vielleicht. Die Unfreundlichkeit, die mich da im wahrsten Sinne des Wortes getroffen hat, war auf eine manchmal doch recht schmerzhafte Weise physisch spürbar. Man hat mich damals nämlich auf der Bühne mit Gegenständen nach mir auf der Bühne geworfen.
Wirklich?
CB: Aber ja doch. Ich kann Ihnen sogar noch sagen, welche: Da flogen Apfel, Pfirsiche, Bierflaschen, viele Flaschen, sogar volle. Was ich erstaunlich fand, ist, dass mir darüber die Musiker nicht abgesprungen sind. Sie haben das ausgehalten. Nur meinen Schlagzeuger musste ich einmal mit Engelszungen überreden, wieder auf die Bühne zu kommen, weil ausgerechnet er, warum auch immer, jedes Mal die Tomaten abbekommen hat.
Steve Swallow: Ich vermute mal, er hat nicht besonders gut gespielt an diesem Abend. (Beide lachen.) Im Ernst: Das alles hat ja zum Glück nicht sehr lange angehalten, soweit ich weiß. Stimmt, das war wirklich nur ganz am Anfang. Damals bekam ich schon mal so erbauliche Sprüche zu hören wie “Geh heim und mach den Abwasch”, zum Beispiel in Italien, wie ich mich noch gut erinnere.
Und zu Hause in Amerika?
Ich habe eigentlich nicht in Amerika gearbeitet, oder kaum. Ganz selten gab es mal eine kleine Tour.
SW: Ja, und wenn, war es immer ziemlich unerfreulich. Es gab und gibt in den Staaten im Grunde kein wirklich substanzielles Publikum für diese Art von Jazz.
Haben Sie nie versucht, ausschließlich als Komponistin zu arbeiten?
CB: Das wäre mein Traum gewesen. Und ich habe das, genau genommen, ja auch über viele Jahre hinweg gemacht.
SW: Eigentlich denke ich, dass du das immer noch bist: eine Vollzeit-Komponistin. So jedenfalls würde ich dich beschreiben. Du verbringst den Großteil des Jahres damit, Musik zu schreiben, und trittst zusätzlich vielleicht ein oder zwei Monate im Jahr auf. Und warum trittst du auf? Weil du das, was du schreibst, selbst spielen willst.
CB: Ja, das stimmt. Nur deshalb. Ich bin nämlich eigentlich gar keine Bühnenmusikerin.
SW: Ich beobachte das jeden Tag. Sie steht nie auf und trinkt ihren Kaffee am Küchentisch. Sie nimmt ihn immer mit ans Klavier. Sie ist in ihrer Arbeit von einer enormen Konzentration und Ernsthaftigkeit. Und das an sieben Tagen in der Woche. Ganz einfach, um so viel, oder besser: um so intensiv Musik schreiben zu können, wie irgend möglich. Aber materiell gesehen ist die Entlohnung für das Schreiben diese Mühe nicht wert. Leider.
Was genau reizt Sie daran, ihre kompositorische Arbeit, die ja auch eine Art Bestimmung ist, zu unterbrechen und Ihre Musik immer wieder selbst aufzuführen?
CB: Da muss ich etwas zurückgehen. Ich konnte einfach lange Zeit mit dem Komponieren kein Geld verdienen, wohl aber mit dem Spielen. Die meiste Musik habe ich unentgeltlich geschrieben. Ich denke, ich würde jetzt gerne sagen, dass ich also gezwungenermaßen immer wieder auf die Bühne zurückkehre. Aber die Wahrheit ist: Wenn ich ein gutes Konzert gespielt habe, macht mich das extrem glücklich. Wenn alles klappt, wenn ich genau das umsetzen kann, was ich in mir habe, wenn alle Töne richtig und an der richtigen Stelle auftauchen oder zumindest nur ganz wenige falsch sind und die vielleicht auch gar niemand hört oder ich mir das wenigstens einbilden kann, dann ist das im Nachgang ein wahrhaft erschöpfendes Glücksgefühl. Einfach großartig. Beim Schreiben dauert es manchmal drei Jahre, bis man so etwas wie Glück empfindet. Meistens sogar erst dann, wenn das Stück irgendwann gespielt wird. Das heißt: Drei Jahre Warten auf eine Stunde Glück. Als Musiker, oder sagen wir: als guter Musiker, hat man dagegen eine Chance, jeden Tag dieses Glück zu empfinden.
SW: Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass du doch sehr lange brauchst, bis du eine Komposition abschließen kannst. Dadurch ist es schwer, den Moment tiefster Befriedigung noch zu spüren, wenn die Arbeit getan ist. Der Prozess war dann vielleicht einfach zu erschöpfend dafür.
CB: Er kennt mich besser als ich mich selbst.
Was insbesondere Musiker an Ihnen bewundern, ist die Klischeefreiheit in Ihrer Musik, vor allen hinsichtlich der harmonischen Auflösungen – und natürlich Ihren sehr eigenwilligen Humor.
CB: Warum es in meiner Musik vermutlich keine Klischees gibt, ist sehr leicht zu beantworten: Ich kenne keine. Und glauben Sie mir: Würde ich sie kennen, würde ich sie wahrscheinlich in meinen Stücken verarbeiten.
Aber die Welt, auch die der Musik, steckt doch voller Klischees?
CB: Ja, mag sein, aber wenn ich mit ihnen konfrontiert bin, kann ich damit irgendwie nicht umgehen. Ich habe gar keinen Bezug dazu. Ich weiß nicht, wie sie funktionieren. Das ist wie eine Sprache, die ich nicht verstehe und die ich nicht sprechen kann. Ich würde sie aber gerne lernen. Wirklich.
SW: Aber bitte erst nach der Tour.
CB: Meinetwegen. Und zum Humor: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Musiker sehr lustig und humorvoll sind. Beim Essen, in der Garderobe oder im Bus nimmt man sich permanent gegenseitig auf den Arm. Es wird unheimlich viel gelacht. Aber kaum betreten sie eine Bühne, werden sie feierlich und sehen ernster aus als ihr eigener Anzug. Das habe ich nie verstanden. Ich würde über diese Art von Selbstkontrolle gar nicht verfügen. Wenn ich etwas als komisch empfinde, dann ist es für mich auf der Bühne genauso komisch wie im Bandbus. Und ich möchte dieses Gefühl dann auch ausdrücken und teilen können. Das ist doch menschlich. Es ist ein wichtiger Bestandteil der außermusikalischen und in der Folge durchaus auch der musikalischen Kommunikation.
SW: Ja, das ist schön. Es gibt aber leider eine Tendenz zu einer Art neuer Musical Correctness. Das ist schade, weil es auf Dauer zu ganz anderen Erwartungen führen wird, unter den Musikern wie zwischen Musikern und Publikum. Und genau das ist das Besondere an Carlas Musik. Sie erlaubt, dass der Spaß oder der Humor, analog seiner Bedeutung im Leben, zum integralen Bestandteil der Performance wird, vor allem dann, wenn er spontan aus der Musik selbst entsteht. Dadurch sind wir alle auf der Bühne irgendwie wahrhaftiger und nehmen uns auch selbst so wahr. Dadurch entsteht eine zusätzliche Ebene der Offenheit – und viele sehr persönliche und entspannende Momente.
Das neue “Trios” Album ist eine Art Retrospektive, gleichzeitig aber auch ein neuer, klanglich wie ästhetisch nochmals verdichteter Sound.
CB: Das war so nicht geplant. Das ist wirklich das Verdienst von Manfred Eicher als Produzent, der das ermöglicht hat, der uns an diesen Punkt geführt hat. Er hat die Stücke herausgesucht und noch vor mir oder vor uns die entsprechende klangliche Idee dahinter gehabt. Es war einfach schön, endlich mal Verantwortung abzugeben. Mein ganzes Musikerleben habe ich damit zugebracht, festzulegen, wie etwas zu machen ist oder wie es zu klingen hat. Und diesmal hat Manfred diese Rolle übernommen. Genau diese Erfahrung wollte ich. Er hat die Stücke ausgewählt, er hat die Reihenfolge festgelegt, er hat das Studio bestimmt und auch das Artwork, bis hin zum Foto, das ja nur mich zeigt, obwohl ich persönlich eher ein Foto des Trios bevorzugt hätte. Aber egal: Es war großartig. Ich musste mich um nichts kümmern. Wir spielten, wurden bezahlt und gingen nach Hause. Ein Traum.
SW: Carla hatte ja niemals zuvor einen Produzenten. Man glaubt das kaum. Sie war von Anfang an gezwungen, sich auf ihr eigenes Urteilsvermögen zu verlassen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, alles komplett selbst zu regeln, bis hin zu den Plattenverkäufen. Und jetzt war da zum ersten Mal jemand, der ihr sagte: “Dieser Take ist nicht gut genug, dieses oder jenes Stück passt nicht ins Repertoire des Albums.” Das war eine wundervolle Erfahrung: reine, sorglose Konzentration. Manfred mit seinem großen musikalischen Verständnis war hier mehr als hilfreich.
Sie geben Ihren Musikern eine enorme, in gewisser Hinsicht an Duke Ellington erinnernde Freiheit, sodass bei aller kompositorischer Meisterschaft doch immer die Musiker im Mittelpunkt der Musik stehen …
CB: Oh, danke schön. Das Kompliment gefällt mir.
Apropos: Wie sehen Sie selbst eigentlich ihre Verbindung zu Ellington?
CB: Offen gestanden sehe ich da gar keine so große Verbindung. Ich schreibe ganz einfach am liebsten für bestimmte Musiker. Ich kann sie dabei in meinem Kopf spielen hören, bei jeder einzelnen Line, die ich schreibe. Ich arbeite möglichst immer wieder mit denselben Leuten zusammen, weil ich ihren Sound kenne und mag. Wenn ich mir vorstelle, dass das jemand anderes spielen soll, macht mich das unsicher. Weil ich nicht weiß, wie das dann klingen wird. Ich kann es in diesem Fall eben nicht hören, bevor ich es gehört habe. Und noch etwas ist wichtig: Wenn ich mich einmal für einen Musiker entschieden habe, dann würde ich ihn niemals kritisieren. Feuern ja, aber niemals kritisieren!
SW: (bricht in schallendes Gelächter aus) Nein, nein, glauben Sie ihr kein Wort, Du hast noch nie jemanden gefeuert.
Eine letzte Frage: Täuscht mich der Eindruck, oder gibt es zwei Instrumente, die neben Klavier oder Orgel, in Ihrer Musik besonders wichtig sind ….
CB: … Posaune und Bass! Stimmt. Ich habe in all den Jahrzehnten nur mit zwei Bassisten gearbeitet: mit Steve und mit Charlie Haden. Ich brauche einfach diesen ganz bestimmten Sound in meinem Rücken. Ich kann mir nicht vorstellen, mit jemand anderem zu arbeiten.
SW: Oh mein Gott, ich bin privilegiert.
CB: Typisch. Ich lobe ihn und er macht sich darüber lustig. Zur Strafe hat er in dem Stück, das ich gerade beendet habe, meistens nur eine einzige Note zu spielen.
SW: Ja, aber das ist perfekt für mich. Vor allem, weil diese Note eine der Noten ist, die ich am besten kann. Das freut mich. Genau so muss es sein. Am Ende sind alle glücklich.
Interview: Volker Doberstein
Datum: 26. Juni 2023