Das Erhellende des Dunklen Michael Wollny
Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2015 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.
Es wird langsam eng in Michael Wollnys Vitrine, I, mit gerade mal 36 Jahren wurde der Pianist bereits u. a. mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik, dem SWR Jazzpreis, dem “Choc de l’année” und dem “Ronnie Scott’s Jazz Award” ausgezeichnet. Was eindrucksvoll belegt, insbesondere Wollny hat den jungen deutschen Jazz endlich wieder auf die europäische Landkarte gesetzt. Vor allem aber:
Wollnys Alben werden diskutiert. Sie sind Bestandteil eines dringend nötigen Diskurses darüber, wie der Jazz seinen Nimbus als wichtigster zeitgenössischer musikalischer Innovationstreiber wieder zurückerobern kann. Einen Rang, den ihm vor allem die elektronische Musik sukzessive abgelaufen hat.
Michael Wollnys letztes Album “Weltentraum” erhielt allein drei ECHOs und großflächig Aufmerksamkeit. Der frisch gepresste Nachfolger heißt “Nachtfahrten”. Im Line-up: sein kongenialer, ihm bereits aus Zeiten von [em] vertrauter Schlagzeuger Eric Schaefer sowie erstmals der Schweizer Bassist Christian Weber, der im Jazz ebenso zu Hause ist wie in der neuen Musik und der; wie Wollny und Schaefer auch, mit einer höchst originellen Klangsprache beeindruckt. Inspiriert zu diesem neuen Album hat Wollny übrigens die Lektüre eines Buches über die Schwarze Romantik mit dem Titel “Nachtmeerfahrten” , “Nachtfahrten” ist, wie von diesem Ausnahme-Musiker gewohnt, ein hochintelligentes, stringentes und doch in sich auch vielfach kunstvoll gebrochenes Meisterwerk der Kontemplation und Entschleunigung.
Einerseits vor allem formal, ästhetisch, zeigt sich Wollny stark von den Ideen der Romantik beeinflusst: Das Album ist Programmmusik und erinnert dabei an Vorbilder wie Schumann oder Liszt. Außerdem verficht Wollny, wie die Romantiker, Begriffe wie Grenzenlosigkeit und Individualität, wendet sich also ab von Kategorien wie Richtigkeit bzw. Streben nach Vollendung, wie sie insbesondere in der Klassik postuliert worden waren. Andererseits distanziert sich Wollny von einem Grundtopos der Romantik: der gequälten Seele. Wo Wollny das dunkel Verhangene sucht, tut er dies nicht, um das Leiden künstlerisch zu stilisieren. Bei ihm ist das Dunkle, ganz im Gegenteil, der Inbegriff der Heilung. Dunkelheit bedeutet ihm Einkehr, beschützt Sein und vertrauensvolle Zweisamkeit im Schlaf oder im Einschlafen. (Manchmal kann man in seiner Musik hören, wie sich zwei oder drei individuelle Atmungen übereinanderlegen und zu völliger Kongruenz verschmelzen.)
Die Dunkelheit verschafft einem in unserer permanent künstlich beleuchteten und lückenlos
ausgeleuchteten Welt jene Momente des Rückzugs und der Ruhe, aus denen wir unsere Tiefenkraft beziehen. Denn Licht bedeutet allzu häufig nur Blendung und Aktionismus. Die unbedingte Zeitgemäßheit der Musik Michael Wollnys besteht also gerade darin, sich auf tradierte Ideen zu beziehen, um im Kontrast zur Wahrnehmung seiner selbst und seiner Umwelt, das Hier und Heute im mitgelieferten historischen Kontext nur umso deutlicher hervortreten zu lassen. Wollnys Musik ist immer auch Musikgeschichte und Musiksoziologie eingeschrieben. Und doch ist sie dabei vor allem eines:
Wundersam unakademisch. Michael Wollnys Weg ist einzigartig – einsam aber ist er nicht.
Die neue Platte “Nachtfahrten” wurde unter einem gewissen Zeitdruck aufgenommen.
MW: Die Platte war lange und gut vorbereitet, aber es war dann tatsächlich ein Novum, dass wir alles in vier Tagen aufgenommen, gemischt und gemastert haben. Normalerweise liegen zwischen diesen einzelnen Phasen ja Wochen. Wenn aber, wie im Falle von “Nachtfahrten”, alle Beteiligten jeden Tag gut zehn Stunden investieren, entsteht daraus für diese kurze Zeit eine eigentümliche Geschlossenheit und Energie. Alles klingt, als wäre es aus einem einzigen Moment heraus entstanden. Eigentlich eine sehr schöne Produktionsweise.
Ich finde Ihre Albumtitel sehr spannend: “Hexentanz”, “Wunderkammer”, “Weltentraum” und nun “Nachtfahrten”. Inwieweit lässt der Titel bereits Rückschlüsse auf den Inhalt zu? Sie erinnern ja stark an die Programmmusik der Romantik.
MW: Sie verweisen auf sehr bildhafte Welten, sie öffnen Türen zu ungewöhnlichen Räumen. Und natürlich weisen sie bekannte Bezüge zu bestimmten Liederzyklen, symphonischen Dichtungen oder romantischen Charakterstücken auf. Ich würde die Suche nach einem Titel eine Art unbewusst-bewussten Prozess nennen, eine Art Reflex auf die Musik, oder auch die klangliche Vision am Anfang der Arbeit. Der Weg ist dabei immer ähnlich, wir spielen im Kopf Titelbegriffe durch und reagieren irgendwann, wenn ein Wort auftaucht, das genau die kritische Masse an Assoziationen mitführt, die wir uns vorstellen.
Stellen Sie ihre Arbeit eigentlich bewusst in die europäische Musik- und Geistestradition?
MW: Das ist weniger eine Entscheidung als eine Tatsache. Heinz Sauer hat mir mal erzählt, dass er erst im Zusammenspiel mit Archie Shepp wirklich verstanden hat, dass er eine andere musikalische Erziehung und Erfahrung mitbringt als jemand, der auf einem anderen Kontinent groß geworden ist. Die Quelle, aus der sich unsere Erfahrungen speisen, ist unsere eigene Geschichte. Der Rest ist Interesse. Man schaut natürlich gerne mal dorthin, wo man nicht herkommt, weil es dort Neues zu entdecken und zu lernen gibt. Dann versucht man ganz automatisch Brücken zu dem zu schlagen, was man schon kennt.
Eine dieser Brücken kommt in ihrem Falle aus der Romantik.
MW: Dem romantischen Gestus fühle ich mich generell einfach sehr nah. Das Überschwänglich, das Expressive, das Verklärende, der Hang zum Düsteren, nicht voll Ausgeleuchteten, das ist mir in der Musik wichtig. Aber durchaus in einem aufklärerischen Sinne, es ist ein bisschen wie in einem Horror-Thriller: Geschichten, in denen die Tür zum Übernatürlichen aufgestoßen werden, erzählen am Ende vor allem etwas über die natürliche Welt, alles wird also erst durch seinen Gegenpart wahr
MW: Ja. Je weiter ich meine Fragen über ihre Grenzen hinweg stelle, desto mehr erfahre ich über die reale Gegenwart.
Diese Grenzenlosigkeit ist ein wichtiges Element in ihrer Musik. In Ihrem neuen Album “Nachtfahrten” betritt man als Hörer die Musik durch eine sehr einfach vom elementaren Klang her gedachte Melodie.
MW: Das war genau unsere Intention. Wir haben dieses Stück an den Anfang gesetzt, weil es wie ein Koordinatenkreuz funktioniert. Ein Nullpunkt. Ein Portal. Es stellt ganz radikal einfach diese magische Melodie in das Zentrum. Sonst nichts. Ich glaube, man hört alles, was danach kommt, dadurch anders, dass man diesen Einstieg in den musikalischen Raum gewählt hat. Das hat viel mit dem Klang zu tun, mit der zurückgenommenen Dynamik, wodurch die Töne einfach anders miteinander schwingen. Als Pianist in einem Trio ist
man ja häufig eher im oberen dynamischen Drittel unterwegs. Das einfach mal zu lichten und freizugeben führt dazu, dass der musikalische Raum auf andere Art plastisch und begehbar wird. Dieses Platzschaffen findet sich in einer anderen Lesart dann im Schlussstück wieder; also beim Verlassen des Raumes.
Man betritt mit diesem Album wirklich einen einzigen, magischen, musikalischen Raum.
MW: Ja. Übrigens ging uns das im wahrsten Sinne des Wortes so, und zwar durch das Betreten des Studioraums. Wir gehen als Band in diesen Aufnahmeraum und füllen ihn mit Musik. Das ist für mich der Sinn und Zweck einer Platte, einen gemeinsamen, im Spielen wie im Hören begehbaren Raum zu schaffen. Wie es Sinn und Zweck des einzelnen Stückes ist, eine kleine Welt innerhalb dieses Raumes zu erschaffen und zu gestalten, in der bestimmte Regeln gelten. Ich mag Platten, die sich einem einzigen nachvollziehbaren Grundgedanken verschreiben und diesen dann so konsequent wie möglich durchspielen. Ich habe kürzlich einen interessanten Beitrag gelesen, wonach sich unsere gegenwärtigen Kulturprodukte mehr und mehr ins Unendliche wenden. Filme mit klarem Anfang und Ende werden durch Serien mit offenem Ausgang und theoretisch beliebig vielen Staffeln abgelöst und so weiter. Oder die Idee des Streaming, die Idee des kurzen Teilhabens an einem unendlichen Strom, der nie ein Ende findet. Ein Album ist aber glücklicherweise nach wie vor ein begrenzter Ort, sodass man hier noch eine einzige Geschichte erzählen kann, ohne gleichzeitig zahllose andere beginnen und in der Schwebe lassen zu müssen.
Man wird zu diesem Ende mit dem Mittel der Entschleunigung geführt.
MW: Ich bin sehr froh, dass Sie dieses Wort “Entschleunigung” verwenden. Ich glaube nämlich, wenn ich das so allgemein sagen darf, dass es genau das ist, was wir alle brauchen: Entschleunigung.
Weil das Verstehen manchmal mehr Zeit bräuchte, als einem der Handlungsdruck einräumt?
MW: Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass alle aktuellen Krisen etwas mit einer aus dem Ruder gelaufenen Geschwindigkeit zu tun haben, die nicht mehr oder nur sehr schwer kontrollierbar ist.
In diesen entschleunigten Sinne sind ihre musikalischen “Nachtfahrten” für nicht geradezu eine “Schule des Zuhörens”.
MW: Das wäre wunderbar. Wenn man auf dem Klavier einen einzelnen Ton spielt und ihm zuhört, dann stellt man fest, dass es sich dabei nicht um ein einziges Ereignis handelt, sondern um eine Kette von unendlich vielen Ereignissen und Einflüssen, die in diesem Moment miteinander reagieren: der Raum, die Obertöne und so weiter. Außerdem hat jeder Ton, den man anschlägt, eine gewisse Lebensdauer. Deshalb hat Phrasierung oftmals weniger mit der Komposition oder dem Willen des Interpreten zu tun als mit dem Willen des Tons. Er sagt dir, wie lang er ist und in welcher Geschwindigkeit ein Stück in einem bestimmten Raum gespielt werden kann. Wenn nun mehrere Instrumente in dieser Weise zusammenkommen und ihre Töne miteinander kombiniert werden, wird diese Ereigniskette noch viel komplexer. Insofern betrifft das Thema “Schule des Zuhörens” auch uns als Musiker. Weil auch wir erst im Spielen und Zuhören bestimmte Dinge herausfinden.
Die Organisationsform auf der Platte ist außergewöhnlich. Es wirkt, als wären die Instrumente gar nicht primär stringent organisiert, eher sehr autonom, und würden sich wie von selbst zusammenfügen.
MW: Wir haben an einigen Stellen diskutiert, ob wir nachträglich einzelne Dinge noch etwas zurechtrücken wollen. Gerade in den sehr langsamen Passagen unterliegt man manchmal der Versuchung, einzelne Parts um eine Millisekunde nach vorn oder nach hinten zu schieben, was im Studio ja ohne Probleme machbar wäre. Aber genau das, die völlige, die reine Perfektion, ist das, was alles zerstört. Deshalb haben wir es dabei belassen. Gerade dadurch, dass man manchmal nicht bis auf die letzte Millisekunde zusammen ist, spürt man den gemeinsamen Atem. Man darf ihn nicht durch reine Mathematik ersetzen
Das muss man als Musiker verstehen und zulassen können.
MW: Ja. Natürlich hilft es einem auch hier; wenn man nicht zu viel Zeit hat und nicht alles hundertmal abwägen kann, sodass man darüber im Zweifel vergisst, welche Kraft das Ursprüngliche noch hatte, bevor es irgendwann kaputt repariert wurde.
Es gibt Stellen auf der Platte, wo die Stille wie ein viertes Instrument wirkt.
MW: Der Eindruck ergibt sich allein schon dadurch, dass man auch mal etwas wegnimmt. Mir fällt dazu gerade noch einmal das Eröffnungsstück ein. Der Schlussakkord landet auf einem Dreiklang, inklusive seines eigenen Vorhalts. Die Auflösung passiert erst ganz am Ende, kurz vor dem Verklingen, indem ich einfach den Vorhalt loslasse und plötzlich die Terz in den Raum nach vorn tritt. Das ist ein sehr, sehr kleiner, aber anschauliches Beispiel dafür, dass durch Reduktion etwas Neues entstehen kann.
Hat der Druck durch den Erfolg der letzten Jahre zugenommen?
MW: Natürlich will ich niemanden enttäuschen, auch mich selbst nicht. Aber es geht eigentlich immer um dasselbe: ein Thema zu finden, das es wert ist, erzählt zu werden, und dann genug Zeit und Reflexion zu haben, um es so darzustellen, wie man es für sinnvoll hält. Und das Ganze natürlich auch handwerklich so gut umzusetzen, wie es nur geht. Insofern war der Druck über all die Jahre immer gleich. Als Musiker gehst du auf die Bühne und beginnst immer bei null. Deshalb spielen Erwartungen, Vorurteile, Wünsche, Vorgeschichten in dieser Hinsicht überhaupt keine Rolle. Alles passiert genau jetzt, in diesem Moment. Und diesen Moment gilt es zu schützen. Er darf nicht verschmutzt werden durch zu viele Einflüsse von außen. Der erste Ton, der gespielt wird, füllt das Bewusstsein komplett aus. Diesen ersten Ton zu verfolgen, zu sehen, wo er hingeht, wo die Melodie und Energiebögen landen. Den Ideen nicht im Weg zu stehen, das ist die einzige Aufgabe. Wenn man von diesem Moment etwas wegnimmt, durch äußere Einflüsse, dann führt das zu einer Beschädigung. Insofern kann ich auch Keith Janett verstehen, wenn er, aus der Sicht mancher unnötig aggressiv, auf Störungen reagiert. Aber, wie gesagt, der Moment der Musik ist heilig, fragil, und den gilt es mit allen Mitteln zu schützen.
Es ist auffällig, dass ihre hohe Kunst eigentlich von Beginn an auch gewürdigt wurde – bis hin zu den Medien.
MW: Es zieht sich tatsächlich wie ein roter Faden durch mein Leben, dass ich immer wieder Leuten zu großem Dank verpflichtet war und bin, die etwas in mir gesehen, mir eine Tür geöffnet oder mir einen Platz zugewiesen haben, oftmals noch, bevor ich selbst verstanden habe, um was es geht. Das sind Menschen, die mich bestärkt und gefördert haben in dem, was ich tue. Ich denke da zuerst einmal an meinen Klavierlehrer Chris Beier. Oder an Heinz Sauer, der mich gehört und mich dann eingeladen hat, in seiner Band zu spielen. Ich habe ihn und seine Platten verehrt, Mangelsdorff, Kühn, Sauer, das waren, das sind meine Helden. Ich kann auch rückblickend immer noch nicht so ganz verstehen, warum er mich damals gefragt hat. Aber ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Und dann natürlich Siggi Loch, der mit unserem Debütalbum damals gleich eine ganze Reihe begründet hat: “Young German Jazz”. Dadurch ist natürlich eine enorme mediale Aufmerksamkeit entstanden. All diesen Menschen und Stationen gegenüber empfinde ich große Dankbarkeit. Und eine große Verantwortung. Ich möchte den Raum, der mir geschenkt wurde, bestmöglich nutzen. Zu einer Äußerung wünscht man sich immer auch jemanden, der sie hört. Wenn das der Fall ist, und bei mir war und ist das der Fall, dann entsteht dadurch auch die Verpflichtung, die Dinge weiterzuführen. Die Herausforderung ist, bei aller Reflexion, immer noch Geheimnisse zuzulassen, nicht zu viel nachzudenken. Die permanente Selbstbespiegelung kann ganz schnell destruktive Kräfte freisetzen.
Ich denke, dass dies für alle kreativ arbeitenden Menschen gilt: Es ist besser, die Analyse und das Herausfinden-Wollen auf das unbekannte Terrain zu konzentrieren. Sich mit dem zu beschäftigen, was man selbst ist, was man kennt, was man über sich weiß, all das führt dazu, nur noch bewusst zu agieren und nur noch weiter das zuzulassen, was man schon kennt. Deshalb ist das gleichzeitige Möglichst-Viel-Wissen und nicht Über-Sich-Bescheid-Wissen eigentlich ein idealer Zustand.
Datum: 20. November 2023