“Die Leute hassen Solos” – Branford Marsalis

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2015 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

 

Die Situation könnte einem surrealen Film entstammen, Branford Marsalis, mehrfacher Grammy-Gewinner und ältester Spross des einflussreichsten zeitgenössischen Jazz-Clans, sitzt völlig gelassen Backstage und erwartet bei einem Glas Rotwein seinen Interviewer. Was bleibt ihm auch übrig: Sein Tourplan schickt in innerhalb von nur vier Tagen von Ungarn über Deutschland in die Türkei und schließlich nach Spanien. Ins durchaus beachtlicher Lautstärke läuft auf dem Tablet-PC eine Mozart-Oper. Sie läuft während des gesamten Gesprächs durch und regt den Saxophonisten immer wieder zum Mitsingen an. Man könnte neudeutsch von Multitasking sprechen – oder davon, dass dieser Mann sehr viele parallel abgefeuerte Reize braucht, um zur Höchstform aufzulaufen. Sein messerscharfer Verstand ist genauso überwältigend wie seine Freundlichkeit. Einen Fan, der sich für ein Autogramm durch das Labyrinth des Konzerthauses bis in die Garderobe durchgemogelt hat, bittet er kurzerhand, in zwanzig Minuten noch mal wiederzukommen. Er sollte sein Autogramm bekommen. Das nennt man dann wohl entspannt. Vielleicht ein bisschen zu sehr entspannt hat er sich allerdings kurzzeitig während seines ersten, nun auf CD vorliegenden Solo-Saxophon-Konzertes in der Grace Cathedral zu San Francisco – zu deren Erhalt Duke Ellington übrigens in den 1960er-Jahren entscheidend beigetragen hat. Denn als Marsalis sich die Bänder der Aufnahme anhörte, bat er den Tontechniker, zu “Body and soul” zu springen. Worauf der Saxophonist ebenso amüsiert wie erstaunt feststellen musste: Das Stück existierte gar nicht. Er hatte stattdessen Hoagy Carmichaels Standard „Stardust“ versehentlich zweimal gespielt. Er war in eine Welt abgetaucht, in der die Stückauswahl zur Nebensache wurde.

Ihre Familie ist ja so etwas wie eine Marke in heutigen Jazz. Bringt das eine besondere Verantwortung mit sich?

BM: Mit Verlaub, ich halte das für kompletten Unsinn. Ich höre das sehr oft. Wenn Sie mich fragen, ist das haltlos. Natürlich hat Wynton es zu einer gewissen Popularität und Präsenz gebracht, zum Beispiel durch Fernseh-Auftritte und erfolgreiche Big-Band-Projekte. Und ich selbst war sicher auch in einer ganzen Reihe unterschiedlichster Projekte zu sehen. Aber es ist nicht ansatzweise so, dass wir permanent durch die Welt reisen würden, um unsere Sicht der Dinge zu demonstrieren oder andere zu bekehren. Man kann da wirklich nicht von einer Marke sprechen.

Trotzdem haben Sie nicht wenige Musiker beeinflusst.

BM: Wenn das so ist, empfinde ich das als große Ehre. Aber die einzige Verantwortung, die ich fühle, weil Sie danach gefragt haben, ist die, musikalisch so aufrichtig zu sein wie nur irgend möglich. Es geht immer um musikalische Aufrichtigkeit. Für mich bedeutet Unterhaltung nicht, sich hinter seinem Humor oder seinem Intellekt wie hinter einer Maske zu verstecken, sondern im Gegenteil, auf die Bühne zu gehen und sich vor allen Leuten genau diese Maske vom Gesicht zu reißen und auszurufen: Hier bin ich! Und dazu gehört manchmal auch, Interviews zu geben, von denen die Leute denken: Wieso sagt er denn jetzt so was? Weil ich es genau so fühle.

Sie waren an so vielen Projekten beteiligt, gibt es so etwas wie eine persönliche Zwischenbilanz?

BM: Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon bekommen, was Jazz sein sollte und was nicht. Aber das heißt nicht, dass ich vor Musikern, die das anders sehen, keinen Respekt hätte. Den habe ich. Weil wir alle in derselben Arena kämpfen. Leider ist das nicht in allen Lebensbereichen so. Zum Beispiel vermisse ich das in der Politik. Es müsste doch unter seinesgleichen möglich sein, zu sagen: “Ey, du bist zwar der mieseste Politiker aller Zeiten, aber komm, lass uns ein Bier trinken gehen.” Ich jedenfalls respektiere jeden Musiker; egal, wie bekannt oder unbekannt er ist, ganz einfach deshalb, weil er sich auf demselben Gebiet tummelt wie ich. Respekt sollte immer das mindeste sein, was man voneinander erwarten kann.

Es gab bei ihnen viele Kollaborationen außerhalb des Jazz.

BM: Auch wenn das jetzt kleinlich klingt, ich habe niemals mit irgendjemandem kollaboriert. Kollaboration bedeutet für mich eine falsch verstandene Art von Gleichstellung. Ich könnte ihnen viele Platten aufzählen mit solchen Kollaborationen, auf denen der eine das macht, was er gut kann, und der andere das macht, was er gut kann, nur eines machen sie nicht: miteinander kommunizieren, ich hingegen habe immer versucht, mich selbst in solchen Projekten zurückzunehmen und die Musik so authentisch wie möglich zu spielen. Das, was ich in einem Jazzsolo spiele, kann ich nicht spielen, wenn ich mit den Grateful Dead spiele. Es funktioniert einfach nicht. Es gibt Bootlegs von den Grateful Dead mit Jazzmusikern, die darauf genau das spielen, was sie immer spielen – nur dass der Effekt hier völlig verpufft. Falsche Entscheidung. Wenn ich mit Sting spiele, muss ich versuchen, so zu spielen, wie seine Musik klingt. Wenn ich Klassik spiele, muss ich einen dieser Musik angemessenen Ton wählen. Das ist manchmal schwierig, aber sehr lohnend.

Die Improvisation gilt gemeinhin als konstitutiv für den Jazz. Nun werden Sie in den Liner Notes zur neuen CD mit den Worten zitiert, die Menschen seien an Solos überhaupt nicht interessiert, ihnen gehe es um die Melodie.

BM: So diplomatisch wie es dort geschrieben steht, habe ich mich gar nicht ausgedrückt. Tatsächlich habe ich gesagt: Die Leute hassen Solos. Aber man sollte es vielleicht wirklich gepflegter formulieren.

Könnte das daran liegen, dass man komplexe Solos oft mehrmals hören muss, bis man die melodische Qualität oder das Storytelling darin erkennt? 

BM: Aber jedes musikalische Storytelling beginnt doch mit der Melodie. Das ist es ja gerade. Wie eine gute Geschichte mit einem bestimmten Bild oder Thema beginnt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Alles Weitere im Buch basiert dann genau auf diesem Thema. Selbst die überraschendste Wendung lässt sich am Ende darauf zurückführen. Es ist ein Mythos, dass der Jazz auf der Improvisation beruht. Das Problem im Jazz ist, dass die Ausbildung das Harmonische so stark in den Vordergrund stellt und darüber das Melodische vernachlässigt. Ein Solo, das nicht auf der Melodie basiert, wird niemals eine interessante Geschichte erzählen können. 

Das geht dann eher in Richtung musikalische Mathematik…

BM: Wissen Sie, was ein solches nicht melodiebasiertes Solo ist? Eine Ansammlung von technischen Daten und Informationen. Wir machen im Jazz heute alles viel zu kompliziert. Wenn ich vor einer Mikrowelle stehe und mir etwas warm machen will, da will ich doch vorher keine Dissertation über die möglichen physikalischen Probleme der  Mikrowellen-Technologie lesen müssen. Das ist doch widersinnig. Mikrowellen funktionieren

doch, ganz einfach. Knopf drücken und das Essen wird heiß. Das ist alles, was die Leute über Mikrowellen wissen müssen. Und in der Musik ist das nicht anders. Die Leute müssen sagen können: Ich mag diesen Song oder ich mag ihn nicht. Wenn sie erst wissen müssen, warum sie ihn mögen, dann mögen sie ihn sowieso nicht mehr. Und genau das ist das Problem des heutigen Jazz: Man muss als Zuhörer erst mal wissen, warum er gut ist.

Aber frustriert diese Erkenntnis ihre Schüler nicht?

BM: Manchen bestimmt. Sie ringen dann sehr mit sich. Dagegen kann ich aber nichts tun. Da muss er durch. Was ich ihnen als Ausweg anbiete ist, sich die Solos der 40er-Jahre vor Augen zu halten, die immer auf der Melodie basierten. Das war der Erfolg der Solos eines Charlie Parker. Und grundsätzlich: Die Improvisation gab es schon im Barock. Schauen Sie  sich mal an, was ein Cembalo-Spieler in einem Barock-Orchester macht. Der arbeitet nur mit einem Lead Sheet. Ich war mit einem Barock-Ensemble unterwegs und ich sage ihnen, ich habe selten in so kurzer Zeit mehr über Musik und das Improvisieren gelernt. Was den Jazz so einzigartig macht, hat nicht das Geringste mit dem Thema Improvisation zu tun, sind der konsequente Einsatz von Blue Notes und der Swing-Beat. Und der zeitgenössische Jazz nutzt in der Regel keines dieser Elemente. Und wenn Sie jetzt noch wissen möchten, warum er nicht erfolgreich ist, dann ist meine Antwort: genau deshalb.

Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund ihre Rolle?

BM: Ich versuche, durch meine Arbeit an der Schule, die eher sozial motiviert ist, aber auch durch meine Konzerte und Platten, ein echtes, historisch verständiges Jazz-Klientel mit aufzubauen. Man hört heute so viel davon, dass der Jazz nur durch Innovation gerettet werden könne. Ich aber möchte einfach nur; dass die Leute in meine Konzerte kommen und sich Jazz anhören. 

Sonny Rollins erzählte mir kürzlich, dass der Jazz nicht anders sein kann als politisch.

BM: Ich bin nicht der Ansicht, dass eine Musik politisch sein kann. Ich kenne diese Argumentationen noch sehr gut von den Amnesty-international-Tourneen mit Sting und Peter Gabriel 1988. Ich bin aber sehr wohl der Ansicht, dass ein Musiker politisch sein kann und vielleicht sogar sollte. Aber die Jazzmusiker heute sind ja unfassbar unpolitisch. Die Frage der Politisierung kam ja in den 1960er-Jahren groß auf, als zum Beispiel Roger Daltrey sang “We can change the world”. Aber in Wirklichkeit machen wir einfach nur Musik. Damit kann man die Welt nicht ändern. Ein Lied wird niemals eine Waffe übertrumpfen. Musik wird niemals eine Revolution erzeugen. Hunger, Unterdrückung, ja, aber kein Lied. Es wird als Begleitmusik vielleicht zur Hymne einer Bewegung überhöht, aber es spiegelt nur die wahren, eine Handlung auslösenden Gründe. Und weil Sie Sonny erwähnten. Er ist genau das, was ich unter einem politischen Musiker oder Menschen verstehe. Und natürlich kann man das dann auch in seiner Musik hören. Aber das war bei Beethoven schon so. Es wird immer die Leidenschaft sein, die gute Musik antreibt. Viele Jazzmusiker wollen lieber mentale Genies sein und vergessen das Emotionale. Deshalb spiegelt ihre Musik auch nichts Politisches wider, sondern ist einfach nur hochintellektuell. Und das ist nicht die Art Musik, die ich bevorzuge. ich stimme Sonny also insofern zu, als Musik politisch sein sollte, aber das geht nicht, wenn die Musiker eher unpolitisch sind. ich meine mit politischer Musik auch nicht, dass sie für Menschen, die anderer politischer Meinung sind als ich, nicht mehr attraktiv wäre. Ich meine, dass Musik auch heute noch für etwas stehen sollte als theoretische und technische Brillanz.

Und was könnte das sein?

BM: Leidenschaft, Gefühle, Menschlichkeit – also nicht nur trockene Information, die auf einem möglichst perfekt durchdeklinierten mathematischen System beruht. 

Sie haben gerade ihr erstes Solo-Saxophon-Konzert gespielt und veröffentlicht. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

BM: Ja, das stimmt. Es war mein erstes Solo-Konzert. Und die Vorbereitung war natürlich ganz anders, als sie es vor zehn Jahren gewesen wäre, weil mein ganzes Vokabular viel besser geworden ist. ich habe mir einige Solo-Aufnahmen angehört, vor allem die von Sonny Rollins. Man läuft Gefahr, in eine Art Repetitions-Schleife zu geraten, wenn man solo spielt. Und das fände ich persönlich langweilig.

Sie spielen seit vielen Jahren mit ihrem aktuellen Quartett zusammen. Was macht dieses Quartett für Sie aus?

BM: Ganz einfach das gemeinsame Ziel, einen Song so gut klingen zu lassen wie nur möglich. Wir benutzen Songs nicht als Vehikel, um zum Beispiel den Bass oder das Saxophon besonders gut klingen zu lassen. Nur wenn der Song selbst in seiner Gesamtheit gut klingt, kann man ein Publikum bewegen. ich habe oft gehört, wie gerade Jazzmusiker Songs als Vehikel bezeichnet haben – ich weiß gar nicht wofür; vielleicht für ein Solo. Aber: Ein Song sollte niemals ein Vehikel sein. Ein Song ist ein Song, und sonst nichts.