Archie Shepp – “Es war für jeden Musiker eine Herausforderung, mit Trane zu spielen”

Archie Shepp war ein enger Freund und intensiv geförderter Weggefährte des stilbildenden Saxofonisten John Coltrane und gilt heute selbst als eine Ikone des freien Jazz. In einer gefeierten Weltpremiere stellte er für das Enjoy Jazz Festival 2016 seinem Mentor zu Ehren ein All-Star-Tribute-Ensemble zusammen, in dem mit dem bald 80-jährigen Reggie Workman ein weiteres Bandmitglied Coltranes zu hören war. Nicht nur dieser Abend belegte eindrucksvoll: Kaum jemand ist besser geeignet, das Erbe Coltranes auf der Bühne mit derartiger Glaubwürdigkeit lebendig zu halten als Archie Shepp.

Denn Shepp war nicht nur an der Einspielung der beiden wohl wichtigsten Coltrane-Platten beteiligt, „A Love Supreme“ und „Ascension“. Sein Solo-Debüt „Four For Trane“, inzwischen selbst ein Klassiker, enthält vier herausragende Bearbeitungen von Coltrane-Kompositionen. Shepp ist zudem, neben dem 2013 verstorbenen Yusef Lateef, einer der herausragenden Intellektuellen der Black Community der vergangenen 50 Jahre. Als Aktivist, Musiker und langjähriger Professor für Afroamerikanische Studien hat er Generationen von insbesondere schwarzen Jazzmusikern maßgeblich mitgeprägt. Die beeindruckende Weite seines Horizonts zeigt sich nicht nur in seiner Musik, sondern auch in einem nicht weniger inspirierenden Gespräch, in dem er mühelos einen Bogen spannt von der großen Weltpolitik bis zu den Socken von John Coltrane.

Das Gespräch mit Archie Shepp führten wir bei Enjoy Jazz 2016, kurz nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten.

Wenn ich das sagen darf: Sie wirken auf mich in den letzten Jahren immer gelassener, obwohl die gesellschaftliche Situation in Ihrem Heimatland, den USA, sich für die Black Community eher zu verschlechtern scheint und Sie gerade in Sachen Bürgerrechte zahlreiche nicht sehen, frustrierende Kämpfe ausgefochten haben.

AS: Die Erklärung ist ganz einfach: Weil mir meine Großmutter und meine Eltern den Respekt vor den Menschen mitgegeben haben. Aber eben auch die Sensibilität für eine insbesondere rassistisch motivierte Respektlosigkeit, für Armut, für Ignoranz. Nur; Wenn man überhaupt etwas zum Positiven verändern kann, dann führt der Weg ganz sicher über eine Auseinandersetzung, die auf einem grundlegenden Respekt vor dem Menschen und dem Menschlichen beruht. Aber ich gebe zu, dass es mir häufig immer noch sehr schwer fällt, meinen Zorn und meine Enttäuschung zurückzuhalten. Mein Gerechtigkeitssinn ist manchmal einfach stärker.

Sie haben sich als Musiker, aber auch als Professor für Afroamerikanische Studien, intensiv mit den Bedingungen der menschlichen Koexistenz auseinandergesetzt. Dabei sind Sie immer wieder auf das Generalthema Bildung gestoßen. Haben Sie vor diesem Hintergrund eine Lösung dafür gefunden, wie wir insbesondere die westlichen Gesellschaften davor bewahren könnten, auseinanderzudriften oder gar auseinanderzubrechen?

AS: Das ist ein schwieriges Thema. Nehmen Sie nur die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten. Der Wechsel zu Obama war damals ein gewaltiger Schritt. Insbesondere die weiße Arbeiterschaft, aber auch Teile der weißen Mittelschicht haben ihn nie angenommen. Er hat es auch nicht geschafft, diese Leute später an sich zu binden. Man muss sogar sagen, dass gerade die rassistisch bedingte Kluft innerhalb der Gesellschaft eher größer geworden ist in Obamas Amtszeit. Vereinfacht gesagt, wurden die Hoffnungen darauf enttäuscht, Geld in neue Jobs für eben diese Benachteiligten zu stecken. Denn faktisch hat die Obama-Administration es vor allem in die Aufrechterhaltung des Bankensystems gesteckt. Bei denen, die ihm ohnehin schon skeptisch gegenüberstanden, kam letztlich nichts an. Hinzu kam, dass er natürlich immer gegen die republikanische Mehrheit im Kongress regieren musste, was seinen Spielraum extrem eingeschränkt hat. Selbst so offensichtlich wichtige Neuerungen wie Obama Care trafen ja auf erbitterten Widerstand, vor allem am rechten politischen Rand. Gescheitert ist Obama  aber vor allem an seiner Job- und Bildungspolitik. Auch unter Obama setzte sich eine unheilvolle Spirale fort. Verkürzt gesagt: Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher. Der

Wahlerfolg von Donald Trump basiert vor allem darauf, dass das liberale Experiment mit einem schwarzen Präsidenten viele, vor allem aber die weiße Bevölkerung, als gescheitert betrachten und nun kein erneutes vermeintliches Risiko, nämlich die Wahl der ersten weiblichen Präsidentin, eingehen wollten. Die Folgen dieses Scheiterns sind dramatisch, nämlich dass unsere Gesellschaft reaktionärer und konservativer ist als je zuvor. Man hätte Hillary Clinton vor diesem problematischen Hintergrund besser nicht aufgestellt. Weil bereits klar war, dass eine sehr gewichtige Säule der Wählerschaft, nämlich weiße Männer, ihr die Gefolgschaft versagen würden. Ihr Ansehen in dieser Gruppe ist schlechter, als das von Obama jemals war. Das Grundproblem dahinter spiegelt schon unsere Geschichte wider: Schwarze Männer erhielten das Wahlrecht im Jahre 1865, weiße Frauen erst 1920. Man könnte also sagen: historisch und politisch gesehen, haben weiße Männer in den

USA mehr Angst vor ihren eigenen Frauen als vor schwarzen Männern.

Anlässlich des 90. Geburtstags von John Coltrane haben sie in Deutschland, beim Enjoy Jazz Festival, ein brillantes AII-Star-Tribute-Konzert gespielt. Sie kannten Coltrane sehr gut. Im Gegensatz zu ihm, dem durchgeistigten Gutmenschen, sind Sie eher ein sozialpolitischer Aktivist. Oder hatte seine Spiritualität ebenfalls einen signifikant politischen Aspekt?

AS: Aber natürlich hatte sie das. Unbedingt. Man kann das überhaupt nicht voneinander trennen. Er kam aus einem sehr religiösen Umfeld und so war die Hinwendung zur Spiritualität als Haltung für ihn eine logische Konsequenz. Aber er hat als jemand, der aus dem tiefsten amerikanischen Süden kam, eben auch vielfach Rassismus, Ablehnung und Anfeindung am eigenen Leib erfahren. Beide Erfahrungen waren bei ihm immer präsent, das Soziale bzw. Politische, aber auch das Religiöse, das Aufgehobensein in einer Gemeinde, die Teilbarkeit ihrer Werte. Beides hat sich in seiner speziellen Art von Spiritualität geradezu verdichtet, auch musikalisch. In gewisser Weise hat es ihn frei gemacht. Er vertraute außerdem darauf, dass die Kirchen ein guter Ort sein könnten, um politische und soziale Veränderungen anzustoßen. Und die Kirche war ja auch wirklich eine treibende Kraft in der Bürgerrechtsbewegung.

Sie waren unter anderem Teil der Session-Band während der „A Love Supreme“ Aufnahmen, auch wenn die Titel mit Ihnen nicht auf dem Original-Album enthalten waren, sondern erst später nachgereicht wurden. 

AS: Es war für jeden Musiker eine Herausforderung, mit Trane zu spielen. Weil er unfassbar diszipliniert war. Seine Musik entstand nicht etwa aus dem Nichts. Seine Inspiration hatte eine Geschichte. Er hat dafür unfassbar intensiv geübt. Er hat wirklich um die Befreiung seines Sounds gekämpft, ihn seinem Leben abgerungen. Er hatte einen enormen Respekt vor Leuten wie Ornette Coleman und Albert Ayler. Er schätzte die Freiheit, die in der Musik der beiden lag. Und gerade bei Albert war da ja immer auch noch eine enorme Spiritualität in der Musik. Das hat John sehr beeindruckt und ihm sicher auch eine Vorstellung davon gegeben, dass es für ihn möglich ist, eine Musik zu erschaffen, die ihn als Menschen und Musiker, die ihn in seinem Streben nach Menschlichkeit und Freiheit wirklich repräsentiert. Gerade als noch vergleichsweise junger Musiker war es für ihn deshalb sehr wichtig zu sehen, mit welchen Mitteln andere ihren Klang erweitern, um sich selbst in ihrer Musik zum Ausdruck zu bringen.

Coltrane hat Ihnen dann ja quasi ihren ersten Plattenvertrag bei Impulse besorgt. Das erste Album „Four For Trane“ wurde sofort recht erfolgreich.

AS: Wussten Sie, dass, bevor John mich Bob Thiele [Musikproduzent und Leiter von Impulse] empfohlen hat, ich ihm schon vorgespielt hatte? Dabei hatte sich leider herausgestellt, dass Thiele meine Musik nicht besonders mochte! Sie war ihm zu frei. Als John sich dann für mich starkgemacht hatte, fragte Thiele, ob ich für ihn nicht erst mal ein Album mit Coltrane Kompositionen aufnehmen könnte. Ich glaube, er war sehr überrascht, dass ich zusagte. Denn damals wollte eigentlich jeder ausschließlich sein eigenes Material einspielen. Cover-Versionen waren unter Musikern eher unpopulär in diesen Tagen. Ich aber hatte ohnehin gerade einige Stücke von John für meine Band arrangiert. Deshalb passte es wunderbar. Und dann, gleich zu Beginn der Coltrane-Aufnahmen, änderte Thiele seine Meinung über meine Musik. Plötzlich fand er alles großartig, war völlig begeistert. Er hat dann direkt aus dem Studio in New Jersey Trane zu Hause in Long Island angerufen und ihm vorgeschwärmt, die Aufnahmen seien grandios und er müsse sich das unbedingt anhören. Es war schon nachts und John, der zeitlebens ein sehr großzügiger und hilfsbereiter Mensch war, hat sich sofort auf den Weg gemacht und ist ins Studio gekommen. Er hat sich derart beeilt, dass er noch nicht mal Socken angezogen hat. Der Produzent kam dann auf die Idee, die Aufnahmen „Four For Trane“ zu nennen, weil unter den fünf Songs vier von John waren. Der Fünfte ist von mir. Thiele mochte ihn übrigens nicht besonders. Aber John, der inzwischen eingetroffen war, meinte, die Nummer gefiele ihm sehr und das genügte, um sie am Ende auf die Platte zu bekommen! Wir haben dann noch das Foto fürs Cover gemacht, das John und mich zeigt. Und wenn Sie sich schon immer gefragt haben sollten, warum Trane darauf zwar Schuhe, aber keine Socken trägt, jetzt wissen Sie’s.

 

Foto: Manfred Rinderspacher