Ornette Coleman – „In jedem einzelnen steckt etwas, das die Qualität besitzt, ihn kraft seines Herzens und seiner Seele zu einem besseren Menschen zu machen.“

(Hinweis: Der folgende Text ist ein Artikel aus Jazz Podium 09/15.)

Ornette Coleman, der am 11. Juni 2015 im Alter von 85 Jahren an Herzversagen gestorben ist, zählt zu den wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Musikern der Jazzgeschichte. Seine Bedeutung liegt aber nicht nur in den wegweisenden Aufnahmen der Jahre 1958 bis 1960: vom Debüt „Something Else! The Music of Ornette Coleman“, das, schlecht vermarktet, seinerzeit kaum wahrgenommen wurde, über „The Shape Of Jazz To Come“ bis zum als besonders programmatisch geltenden Album „Free Jazz. A Collective Improvisation“. Seine Bedeutung liegt insbesondere auch in der erzieherischen Wirkung seines Wirkens also darin, dass seine Arbeit bis zuletzt immer weit über sich selbst hinausgewiesen hat. Vor allem durch die ihr eigene Konsequenz, durch die Reinheit ihres musikalischen Willens, der vielfach als Angriff wahrgenommen wurde.

Coleman, dieser freigeistige Autodidakt, war ein Wegbereiter des Neuen, der „Befreier“ des Jazz aber, wie anlässlich seines Todes wieder vielfach zu lesen war, war er nicht. (Der Albumtitel „Free Jazz“ bedeutet bekanntlich nicht nur; im appellativen Sinn „Befreit den Jazz“, sondern auch, im deskriptiven Sinne „Der freie Jazz“.) Die „New York Times“ beispielsweise benutzte in ihrem Nachruf stattdessen die schöne Formulierung, Coleman „rewrote the Language of Jazz“. Mit dem Begriff Befreiung hingegen sollte man sehr vorsichtig umgehen. Denn frei war der Jazz immer. Das liegt im Wesen der Musik. Als abstrakte Kunst, als Signifikantenstruktur ohne Signifikate, die kein Verweilen, keine monumentale Statik kennt, sondern sich flüchtig und dynamisch in der Zeit vollzieht, ist sie an sich bereits frei und die freieste aller Künste. All ihre Regelwerke, und ein solches gibt es auch bei Coleman, dienen vor allem dem einen Zweck: Freiheit teilbar und damit zu einem kollektiven Ereignis zu machen. Im Übrigen: Die ganze Entwicklungsgeschichte des Jazz ließe sich, auch ohne den großen Solitär Coleman, mühelos als kreative Missachtung und Erweiterung jeweils tradierter Grenzen lesen. Wohl aber hat Ornette Coleman, durch sein Handeln, unser Denken und Wissen über Musik, und insbesondere über den Jazz, erheblich erweitert – und natürlich auch die Ausdrucksformen des Genres. Diese gerade zu Beginn der Karriere Colemans vielfach als Schock und mit großem Unverständnis wahrgenommene Erweiterung des kollektiven Möglichkeits-Begriffs, die über fast alles bis dahin Gekannte hinausging, war und ist vielen eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. 

Als theoretischer Ausdruck dieser Erweiterung diente ihm sein „Harmolodics“ genanntes System, das er nicht nur als Lehre vom Jazz, sondern als Lehre vom Leben bzw. vom Menschsein begriff. Es ist weitestgehend ein Mythos geblieben. Das große erklärende musiktheoretische Werk, das Coleman über 50 Jahre hinweg immer wieder angekündigt hatte, ist nie erschienen. Auch deshalb, weil selbst engste Mitarbeiter die Skizzen, über die bislang nur wenig bekannt ist, dem Vernehmen nach als unlesbar einstuften. Also hat die Musikwissenschaft Ornette Colemans systemische Überlegungen mittels einer Werkanalyse mehr konstruiert als rekonstruiert; und damit – ein interessanter, aber wissenschaftlich nicht unumstrittener Kunstgriff – Colemans Praxis zur Theorie erklärt.

Das hat natürlich Gründe. Alle mir bekannten Versuche, Coleman substanzielle technische oder programmatische Details über seine ihm selbst zufolge alles verbindende Theorie zu entlocken, blieben, ob in Schriftform oder mündlich, undurchschaubar fragmentarisch, mündeten in Esoterik oder scheiterten an der Limitierung der Wortsprache. Dass sich sein harmolodisches System trotzdem zu einer Art mystischem Chiffrenkranz des Jazz entwickelt hat, ist nicht ohne Ironie. Ein bisschen ähnelt Coleman hier dem Schriftsteller Thomas Bernhard, zu dessen beeindruckenden Fähigkeiten die gezielte, aber letztlich (bewusst) oberflächliche Aneignung und Amalgamierung insbesondere philosophischer Ideen zählte. Bei Coleman verschmolzen mal klug, mal eher naiv anmutende Ansätze aus Erkenntnistheorie, Kultur- und Sprachkritik, Naturwissenschaften, Spiritualität, Sozialphilosophie, Mathematik, Harmonielehre und Musiktheorie zu jenem System namens „Harmolodics“, das reduziert auf das genuin Musikalische (was Coleman übrigens abgelehnt hätte), vor allem eine Organisations- und Interaktionsform darstellt, in der unter dem Primat größtmöglicher individueller wie kollektiver Freiheit, über lineare Intervallreihen improvisiert wird und in der es bestimmte konstitutive Vorlieben, und in der Regel tatsächlich auch Vorgaben, hinsichtlich Tonalität, Metrik und Melodieführung gibt. 

Es scheint fast so, als hätte Coleman et nach den frühen Jahren der offenen Anfeindung, zunehmend genossen, über die Verselbstständigung seines für Außenstehende undurchschaubaren Theorems als der große, gelassene, Unfassbare als tief in sich ruhender und doch unbeugsamer Quer- und Weiterdenker wahrgenommen zu werden. Die feine, von Ornette Coleman selbst nie thematisierte Ironie des harmolodischen Systems besteht darin, dass ausgerechnet der Freie, also Coleman, ein System benötigt, um der Welt seine Freiheit vor Augen zu führen bzw. um seine Freiheit überhaupt (musikalisch) leben zu können. Dahinter steht die nicht nur im musikalischen Sinne bedeutsame Erfahrung, dass es zum einen keine absolute Freiheit geben kann und wir zum anderen Freiheit nicht absolut erkennen und bewerten können, sondern immer ein antagonistisches Gegenüber brauchen – in Colemans Fall ein überfrachtetes ganzheitliches System.

Coleman bevorzugte bekanntlich Besetzungen ohne Harmonieinstrument. Im Laufe seiner Karriere hat er nur mit wenigen Pianisten gespielt. Allerdings pflegte er über viele Jahre hinweg eine intensive menschliche wie musikalische Beziehung zu Joachim Kühn, dokumentiert auf dem Live-Mitschnitt „Colors“. Dass es sich bei Kühn auch noch um einen europäischen Pianisten handelte, spricht für die grundsätzliche Offenheit Ornette Colemans. Wobei ihn Grenzen dieser Art ohnehin nicht kümmerten, obwohl er sie natürlich um sich herum wahrnahm. Einst hatte er, ebenso anerkennend wie tröstend, zu Kühn gesagt: „Wenn du Amerikaner wärst, wärst du genauso bekannt wie Keith Jarrett. „Glücklicherweise hat es bei Kühn dann auch so zu einer beeindruckenden Karriere gereicht. Und das ist fast noch untertrieben: Nicht wenige sind der Ansicht, er habe das bis heute beste Klavier-Trio Europas geleitet.

Wenige Tage nach Colemans Tod traf ich Joachim Kühn, der seit Langem auf Ibiza lebt, zufällig auf dem “Jazz and Joy“ Festival in Worms, wo wir dann natürlich auch über Ornette Coleman sprachen. Bereits unmittelbar nach seiner Übersiedlung nach Paris 1968 hatte Kühn u. a. mit Don Cherry, einem der engsten musikalischen Partner Colemans, zusammengearbeitet. „Als dann die Zeit bzw. die Gelegenheit gekommen war, mit Ornette zu spielen“, erzählt Kühn“, war ich durch meine eigenen musikalischen Erfahrungen perfekt vorbereitet. Es hat vom ersten Moment an funktioniert. Ich musste mich überhaupt nicht verstellen. Ornette selbst hat mich sowieso immer darin gestärkt, ganz ich selbst zu sein und ihm nicht zu folgen. Diese echte Gleichberechtigung, auf die er Wert legte, hatte zur Folge, dass ich nicht in unserer gemeinsamen Arbeit, die immerhin sechs Jahre andauerte, völlig frei verwirklichen konnte.“ Diese Phase ab Mitte der 1990er-Jahre ist Kühn noch sehr präsent. Aus dem Stegreif weiß er, dass es genau 16 Konzerte waren, die beide gemeinsam gespielt haben, anfangs im Duo und später im Quartett. Für jedes einzelne dieser Konzerte hatte Coleman mindestens zehn neue Stücke geschrieben – insgesamt waren es rund 1 70. Wobei er seine Stücke immer nur skizzierte. Selbst wenn man, wie Kühn, diese Skizzen nachvollziehen konnte, war es doch unmöglich, sie vom Blatt zu spielen oder sie sich über die Notation anzueignen. Um eine Komposition verstehen zu können, musste sie von Coleman erst vorgespielt werden. Was die Verwertung des Nachlasses einigermaßen kompliziert machen dürfte.

Doch dann, ganz beiläufig, berichtet Kühn in unserem Gespräch von einer veritablen Sensation: „Vor jedem Konzert ließ mich Ornette von Ibiza nach New York einfliegen, wo wir in seinem wunderbaren Harmolodics-Studio eine Woche lang geprobt und dabei all diese neuen Stücke auch aufgenommen haben. Übrigens besitze ich von jeder dieser Aufnahme-Sessions eine Kopie. In Summe sind das ungefähr 500 Stunden Musik“. Dabei handelt es sich um Ton-Dokumente aus einer der spannendsten und kreativsten Phasen in Colemans Wirken. Man kann daher nur hoffen, dass sein Sohn und langjähriger Schlagzeuger, Denardo, der über den Nachlass wacht bzw. die Rechte an den Aufnahmen besitzt, diesen Schatz eines Tages heben wird. Anzeichen dafür gibt es (noch) nicht.  Zumindest aber wissen wir nun, dass vermutlich Hunderte von nie veröffentlichten Kompositionen Colemans nicht zwangsläufig mit seinem Ableben verloren sein müssen.

Das Schaffen zweier weiterer deutscher Musiker ist eng mit Ornette Coleman verbunden: Ingrid Sertso und Karl Berger, beide u. a. Wegbereiter des „World Jazz“. Coleman war, neben Berger und Sertso, einer der drei Gründer der „Creative Music Foundation“, einer seit bald 45 Jahren bestehenden Non-Profit-Organisation vor den Toren New Yorks. Deren Philosophie wirkt wie eine Institutionalisierung der Ideen Colemans. Musik wird hier verstanden und, im Sinne einer Begegnungsstätte und Austauschplattform, gefördert als eine „heilende Energie“, als „universelle Sprache“, die essentiell sei für unser Menschsein. In einem eher persönlichen Porträt über Coleman für das Magazin „Wire“ schrieb Berger; auch im Namen von Ingrid Serlso: „Coleman ist der Grund, warum wir tun, was wir tun.“ Er beschreibt anschaulich, dass Colemans Ansatz eher ein spiritueller als ein intellektueller war. Unter anderem zitiert Berger Coleman mit einem Satz, der als leitmotivisch anzusehen ist und der dessen Verständnis von Musik, das immer auch sein Verständnis vom Menschen mitführte, so perfekt wie selten in die Wortsprache transportiert hat: Seine Vorstellung von Musik, so Coleman“, erlaubt jeden Musiker Teil jedes musikalischen Kontextes zu sein, ohne seine eigene Persönlichkeit seinen eigenen Ton oder seine Art der Phrasierung zu verändern“.

Berger, den man durchaus als Colmar-Intimus bezeichnen kann, hält die Debatte um die Bedeutung des harmolodischen Systems übrigens in einem Punkt irreführend. „Ornette hatte nie ein umfassendes, musiktheoretisches “Werk in Sinn“, befand Berger unlängst. „Die ganze Idee ist eben, dass er sich auf die westliche Idee von Tonmaterial gar nicht einlässt, stattdessen ,Sounds‘ im Zentrum stehen, die unwiederholbar sind, also aus immer wechselnden ,harmonics‘ bestehen, wie man im Englischen das Phänomen von Ober-/Partialtönen benennt. Ein Ton ist also immer ein vielfältiger Klang. Jeder hat eine ganz individuelle Art, Klänge zu hören und zu spielen. In Zusammenspiel kann sich dieses Hören und Spielen harmonisieren. Je mehr man zusammen spielt, desto mehr verfeinert sich dieser Prozess. Darum die vielen Proben, die Ornette machte. Sie hatten wenig mit dem Material zu tun. Es ging ums miteinander spielen.“ Ein Eindruck, der sich durchaus mit den Erfahrungen anderer Musiker wie Joachim Kühn deckt und auf die praktizierte Ganzheitlichkeit von Colemans Ansatz verweist.

So ist hinsichtlich der nie erschienenen großen Abhandlung zum Thema der „Harmolodics“ wohl folgende Lesart die wahrscheinlichste: Unbestreitbar hat Coleman selbst ein theoretisches Werk immer wieder angekündigt – und zwar bereits sehr früh in seiner Karriere, also zu einem Zeitpunkt, da er am stärksten in der Kritik stand und sich zeitweise sogar völlig aus der Szene zurückgezogen hatte. Fragmente davon hat er auch vielfach, überwiegend mündlich mitgeteilt. Die Vorstellung, seine Auffassung von Musik, zu einem theoretischen Werk verdichten zu können, hat ihm damals vermutlich dabei geholfen, die seinerzeit noch nicht allgemein anerkannte Bedeutsamkeit seiner Ideen nach außen hin fiktiv zu simulieren und vielleicht auch zu suggerieren, sie als eine völlig neue, auf bislang unbekannte Weise durch deklinierbare universelle Logik eines zutiefst menschlichen Musizierens einzuführen.  Denn Colemans Vision war eine so weitgehende, dass sein größtes Problem die Vermittlung war. Es gibt in der Musikgeschichte bekanntlich zahlreiche Beispiele dafür, dass man Ohren für Neues erst öffnen und vielleicht sogar konditionieren muss. Diese Öffnung außermusikalisch und mit wissenschaftlichem Anspruch in Buchform zu unterstützen, ist kein ganz abwegiger Gedanke. Zumal Ornette Coleman, der aus einfachen Verhältnissen stammte, zeitlebens ein großes Faible für die Wissenschaften hatte und sehr umfassend interessiert war.

Man muss sich also vor Augen führen, dass Coleman gerade zu Beginn seiner Karriere – am Saxophon wie als Komponist – vielen als eine Art Nihilist galt, der angetreten sei, die Musik zu zerstören, wie es das Fachblatt „Downbeat“ einst formuliert hatte. Sein Ton wurde als nölig empfunden und konterkarierte in seiner Ungeschliffenheit die noch allgegenwärtige Virtuosität des Bebop. Zudem sprengte Coleman das harmonische Korsett und ersetzte es durch eine neue Form der kollektiven Improvisation, die, ein falscher Eindruck der Zeitgenossen, vermeintlich ohne Regeln auskam. Dabei wurde in der ersten Empörung schlicht überhört, dass Coleman sehr wohl aus der Tradition des Bebop schöpfte (aber eben nicht ausschließlich) und darüber hinaus immer dem Blues verpflichtet blieb. Coleman drohte zu scheitern. Obwohl er durchaus prominente Fürsprecher hatte. Der ebenfalls kürzlich verstorbene Musiker, Komponist und Musikpädagoge Gunther Schuller war der wohl größte, zumindest der umfassendste Coleman-Förderer der ersten Stunde. Unmittelbar nach Colemans Auftauchen in der Szene nahm er bereits mit ihm auf, unterrichtete ihn in klassischer Notenschrift und schrieb die betont seriös auf Vermittlung ausgelegten Line Notes, für die LP „Ornette! “ Von 1961. Schuller war es auch, der Coleman in die legendäre Lenox School of Jazz holte, ein mehrwöchiges Ausbildungsprogramm für junge Jazzmusiker, das in den Jahren 1957–1960 bestand und heute einen legendären Ruf als avantgardistische Talentschmiede des Jazz genießt. Weil weitere unverdächtige Schöngeister wie der Third-Stream-Ästhet John Lewis sich früh für ihn einsetzten und weil sich einige seiner noch erkennbar an der klassischen Liedform orientierten Kompositionen wie „Peace“ oder „Lonely woman“ sehr schnell im Jazz-Kanon wiederfanden, entstand sukzessiv ein in dieser Form in der Kunst sehr seltenes Phänomen. Obwohl Coleman dem Kultur-Establishment stets fremd geblieben ist – weil vielfach gar nicht verstanden wurde, dass seine Musik überhaupt nicht nach den gängigen Kategorien des Verstehens gestaltet war -, setzte sich doch die Meinung durch, dass dieser Musiker von offenbar epochaler Bedeutung noch nicht ausreichend gewürdigt worden war. So kam Coleman schließlich in den Genuss einer Art vorweggenommenen Nachruhms. Ein ihm und der Unvergleichbarkeit seiner Musik entsprechendes Paradox. Gerade in seiner Heimat wurde die Schlange derer, die nur darauf warteten, ihm ein Denkmal zu setzen, länger und länger. Die große Chance dazu bot sich unverhofft im Jahr 2007. Ihren Anfang hatte sie zwei Jahre zuvor im fernen Ludwigshafen genommen. Die dazugehörige Geschichte, deren Pointe um die Welt ging, wird hier erstmals von einem ihrer Protagonisten erzählt.

Alles begann mit einer verpassten Chance. Im Jahr 2004 hielt sich Rainer Kern, Leiter des Enjoy Jazz Festivals, gerade in New York auf, als Ornette Coleman in der Carnegie Hall auftrat. Doch Kern hatte bereits einen nicht mehr zu verschiebenden Termin. „Noch an diesem Abend“, so Kern“, fasste ich, auch um mich selbst zu trösten, den Entschluss, ihn im darauffolgenden Jahr zu Enjoy Jazz einzuladen.“ Blieb die Frage nach einem geeigneten Spielort. Kern schwebte ein repräsentativer philharmonischer Saal vor, der die Wertigkeit Ornette Colemans bereits im Vorfeld für jedermann erkennbar sein lassen sollte. Denn für Kern war und ist der Freejazz-Pionier „einer der spartenübergreifend bedeutendsten Künstler der Gegenwart“. Der beste Konzertsaal der Region befindet sich im Feierabendhaus der BASF in Ludwigshafen. Da das Unternehmen nicht nur Sponsor;  sondern auch Konzertpartner von Enjoy Jazz ist, schlug Kern vor, Coleman genau dorthin einzuladen. Wirtschaftlich ein beträchtliches Risiko. Der Saal fasst stattliche 1200 Zuschauer und Free Jazz gilt nicht gerade als Publikumsmagnet. Außerdem war Coleman seit zehn Jahren nicht mehr in Deutschland aufgetreten. Hinzu kamen seine humorlos gepfefferten Gagenforderungen, die zu den höchsten der Branche zählen. Kern konnte die BASF davon überzeugen, dieses Risiko zu tragen. Mehr noch: Einem Gefühl folgend, empfahl der Festivalleiter, das ohnehin üppige Budget noch aufzustocken und das Konzert professionell mitschneiden zu lassen. „,4n eine CD-Veröffentlichung dachte damals niemand. Wir hatten einfach beschlossen, Coleman, den wir im Vorfeld natürlich über unsere Absichten informiert hatten, dem Mitschnitt nach dem Konzert zu schenken“, erinnert sich Kern. „Irgendwie empfanden wir das als angemessene Geste.“ Eine Geste, die zum Glücksfall für den Jazz und für Coleman selbst werden sollte.

Der leider viel zu früh verstorbene Kritiker Konrad Heidkamp schrieb damals in der „Zeit“ über das gegen jede Erwartung restlos ausverkaufte Konzert, Coleman „lässt die Töne hüpfen und fängt sie wieder auf, spricht mit ihnen und lässt sie steigen wie einen Luftballon, an dem der Zettel hängt, Sei du selbst!“ Zum Glück bewahrheitete sich eine Befürchtung Heidkamps nicht. Er schrieb, aufgewühlt und bestürzt, von „einem Abend, der zu den großen verlorenen Moment der Jazzgeschichte in Deutschland zählt“, weil ein ursprünglich angedachter Rundfunkmitschnitt nicht zustande gekommen war.

Das Konzert wurde bekanntlich trotzdem mitgeschnitten. „Ich höre sehr sehr viele Konzerte“, resümiert Rainer Kern“, aber das, was sich an diesem Abend auf der Bühne abspielte und sich auf das Publikum übertrug, war für nicht ein Jahrhundertereignis. Ich bin mit Superlativen sonst wirklich zurückhaltend, aber: Es war das beste Konzert, das ich in meinem Leben gehört habe. Vom ersten Ton an fühlte man sich wie aus seiner normalen Umlaufbahn geschleudert. Es war jenseits aller Erwartung, aller Vorstellungen und aller bisher gemachter Erfahrungen. Dieses Konzert traf einen mit voller Wucht, wühlte einen auf. Es war so intensiv, dass man es aushalten können musste. Es war mehr als ein Konzert, es hat die Welt genau so abgebildet“ wie sie in diesen Moment war“ Coleman selbst hatte es damals auf der Bühne in Ludwigshafen übrigens wie folgt ausgedrückt „Ich fühle so viel an menschlicher Erfahrung an diesem Abend.“ Und genau das war es: ein intensives musikalisches Erlebnis, das alles Außermusikalische wie selbstverständlich einschloss.

Gut ein Jahr später wurden die Aufnahmen unter dem Titel „Sound Grammar“ auf Colemans eigenem Label veröffentlicht. Die CD wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Die Nachfrage übertraf die Erwartungen, sodass das Album nun bereits seit Jahren vergriffen  ist. Das ist bedauerlich, zumal sich das Konzert in diesem Oktober zum zehnten Mal jährt. Einen Hoffnungsschimmer allerdings gibt es: Denardo Coleman hat kürzlich eine Wiederveröffentlichung im Rahmen eines geplanten Box-Sets in Aussicht gestellt.

Coleman erhielt für den Konzertmitschnitt den Pulitzer-Preis, die wichtigste künstlerische Ehrung, die einem in den Vereinigten Staaten zuteilwerden kann. Sie hat den Saxophonisten auf eine völlig neue Ebene der gesellschaftlichen und künstlerischen Anerkennung katapultiert. Aber: Um Coleman die Auszeichnung überhaupt verleihen zu können, mussten die Statuten des Pulitzer-Preises gebogen werden wie widerspenstiger Stahl. Und das gleich in dreifacher Hinsicht. Erstens: Satzungsgemäß ist der Preis für „eine herausragende Komposition“ zu verleihen. Coleman aber wurde für eine Aufnahme bzw. für ein komplettes Album ausgezeichnet. Noch dazu handelt es sich dabei um ein Album, in dem die ungewöhnliche Besetzung als Quartett mit zwei Kontrabassisten und das unikate Spielverständnis mindestens so bedeutsam sind wie die zugrunde liegenden Kompositionen selbst bzw. nicht von ihnen zu trennen sind. Zweitens: Zum ersten und bislang einzigen Mal wurde eine weitestgehend improvisierte Musik ausgezeichnet. Und drittens: Coleman befand sich gar nicht unter den ursprünglich 140 Nominierten. Die Jury musste erst von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch machen, um ihn doch noch auf die Liste zu setzen. Es schien fast so, als sei jedem der Beteiligten klar gewesen, dass es sich bei „Sound Grammar“ um das Vermächtnis Colemans handeln würde, um seinen letzten, fulminanten Paukenschlag, um ein sich selbst gesetztes spätes Denkmal der Einzigartigkeit. Deshalb ist es sicher kein Zufall, dass man ihm im selben Jahr 2007, auch noch den Grammy für sein Lebenswerk verlieh.

Als ich Ornette Coleman ein Jahr nach diesen Ehrungen, im Oktober 2008, am Rande eines Konzerts in Heidelberg interviewen wollte, brauchte es eine Armada an Fürsprechern, um bis zu ihm durchzudringen. Das Tourmanagement erklärte schließlich sein Einverständnis unter der Voraussetzung, das Interview sofort abzubrechen, sollte sich zeigen, dass Coleman, der phasenweise geistig erkennbar ermüdete, unkonzentriert reden würde. Der Manager postierte sich glücklicherweise außer Hörweite und beobachtete die  Szene skeptisch. In diesen Momenten des Gesprächs ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass sich Colemans Mimik in den letzten Jahren verändert hatte, was auf späten Fotos abseits der Bühne auch vielfach dokumentiert ist. Da war zum einen dieses fast unausgesetzte, einladende, altersmilde Lächeln, das die unteren zwei Drittel seines Gesichts einnahm. Doch sein Blick blieb eigentümlich wehrhaft, in einem skeptischen, nicht aggressiven Sinne, als wären ihm das erfahrene Unverständnis und die erlebte Ablehnung unauslöschlich eingeschrieben oder im Alter zumindest wieder präsenter geworden. So bildete dieses charakteristische Lächeln einen permanenten Kontrast zu der wachsam gekräuselten Stirn und den oftmals leicht zusammengekniffenen Augen. Als müsse er immer noch jederzeit bereit zur Abwehr von Angriffen sein. Ein später Reflex vielleicht. Denn die Zeit der Anfeindungen gegen ihn gehörte längst der Vergangenheit an.

Im Übrigen habe ich damals weder in Echtzeit noch beim Abhören des Bandes irgendetwas von dem verstanden, was Coleman mir in seiner eigentümlich leisen, immer ein wenig heiseren Art zu verstehen gab – wie stets mit der Attitüde eines verständnisvollen  Lehrers wider Willen, die ihn noch schmächtiger erscheinen ließ, als er ohnehin war. Dabei hatte er, wie immer freundlich und für seine Verhältnisse sehr auskunftsfreudig, über eine Art Unterkategorie seines harmolodischen Systems referiert, die er mit „Sound Grammar“ umschrieb. Aber Coleman sprach, wie er spielte: Er hatte ein Thema, von dem aus er sich frei und assoziativ in jede nur erdenkbare Richtung bewegen konnte, sodass es dem Zuhörer unmöglich wurde, ihm noch zu folgen, bis er unvermittelt wieder zu seinem Ausgangsthema zurückfand. Für ihn war das kein Problem. Denn für ihn war der intellektuelle Zugang zu den Dingen nur eine eher überschätzte Vorstufe der großen Emotion und Leidenschaft, in der man sich idealerweise selbst erkennen und verwirklichen sollte. Unser Interview war demzufolge eine Art Metakommunikation, die sich lediglich als Gespräch tarnte, ein ganzheitliches Rätsel, eine Herausforderung, ein unmittelbarer Ausdruck des individuellen Da- und Menschseins – und manchmal auch nur der reine Irrsinn. Charismatisch jedoch war diese Kommunikation immer. Während ich einigermaßen ratlos darüber grübelte, ob Coleman gerade meine Dekodierungs-Fähigkeiten oder ich seine gealterten geistigen Kräfte überfordert, hatte er mir unmerklich und mit leisem Humor längst eine Lehrstunde erteilt. Aber das ist mir erst Jahre später klar geworden.

Denn: Wenn man verstanden hat, dass etwas so groß (oder auch nur so anders) ist, dass man es nicht verstehen kann, hat man zwei Möglichkeiten: Ablehnung, weil der eigene Horizont die Grenzen der Bedeutsamkeit definiert, oder Anerkennung, weil, im Gegenteil, die Bedeutsamkeit in der Erfahrung der Grenzen des eigenen Horizonts liegt. Der wichtigste Unterschied zwischen Coleman und seinen (einstigen) Gegnern wie seinen Bewunderern und Nachfolgern ist und bleibt der, dass er der Einzige war, der diese Grenze, die unser individuelles Bewusstsein definiert, nicht etwa ignoriert hat, sie existierte nicht in ihm und damit für ihn.

Ornette Coleman hatte es in unserem letzten Gespräch übrigens so formuliert: „Der Mensch ist in der wunderbaren Lage, alles zuzulassen, woran er glaubt, ohne jeden Anflug von Destruktivität. Es ist eine zentrale Erkenntnis des Menschseins, etwas, das man nicht oder nicht sofort versteht, nicht zwangsläufig ablehnen oder zerstören zu müssen.“ Und er schloss mit dem Satz: „Ich glaube, das deshalb, weil ich überhaupt nur an eine Geschichte glaube, an die der Ideen. „In diesem Sinne hat es vermutlich nie einen freieren Musiker und vielleicht auch Menschen gegeben als Ornette Coleman. Seine visionäre Kraft und seine bedingungslose künstlerische Integrität haben die Welt des Jazz verändert – und damit auch jeden, der sich in ihr bewegt. Und dieser Punkt scheint mir wir kunstgeschichtlich ein ganz zentraler zu sein: Wahre Bedeutung erkennt man u. a. daran, dass jemand seine Befürworter wie seine Gegner, ganz wertfrei formuliert, beeinflusst. Ornette Coleman hat genau das getan. Auf die ihm eigene freundlich, aber in der Sache überaus konsequente Weise, denn Colemans Musik war zu keiner Zeit reine Kopfmusik. Sie hatte immer auch einen Körper. Ihr Aufbruch war ein pulsierender, ein rhythmischer, ein physischer. Ihre reine Kraft hat Mauern eingerissen. Und zwar dort, wo sie am schwierigsten einzureißen sind: in den Köpfen. Denn Colemans Musik ist nicht weniger als ein Sinnbild für das Leben selbst – okay, für eines von vielen möglichen Leben, aber mit Sicherheit für eines der besten. 

So bleibt uns nur noch, uns vor dieser Lebensleistung zu verneigen.
Sie wird einzigartig bleiben.

 

Foto: Manfred Rinderspacher