“In der Musik erklärt sich alles von selbst” – Biréli Lagrène

Biréli Lagröne wurde lange vor allem als der bedeutendste Verwalter des Erbes von Django Reinhardt wahrgenommen. Als Wunderkind gefeiert, das bereits im Alter von zwölf Jahren sein erstes Album aufnahm, dauerte es naturgemäß einige Zeit, bis sich der Gitarrist von seinem großen Vorbild und der Musik des Manouche emanzipierte. Er suchte die Erfahrung mit internationalen Stars. Vor allem aus dem Jazz, wie Herbie Hancock, Jaco Pastorius, Elvin Jones oder den Gitarren-Kollegen Di Meola und Mclaughlin. Dabei wechselte er auch zeitweilig an die E-Gitarre. Anfang der 2000er-Jahre erfolgte dann, mit diesen vielfältigen Erfahrungen im Rücken, die weitgehende Rückbesinnung auf das Erbe der Musik der Sinti. Wobei vor allem seine beiden Alben unter dem Titel “Gypsy Project” aus den Jahren  2001 und 2002 und die Einspielung “Djangology/To Bi Or Not To Bi”, teilweise eingespielt mit der WDR Big Band, als Meilensteine nicht nur des Sinti-Jazz, sondern des europäischen Jazz im Allgemeinen gelten.

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2018 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

Was meiner Ansicht nach bis heute nicht hinreichend gewürdigt ist: Der Gypsy Jazz ist die erste eigenständige Jazzform, die außerhalb der USA entstanden ist.

BL: Das ist in der Tat so. Und besonders spannend dabei ist: Diese erste Generation von Musikern, zu der natürlich Django Reinhardt und Stéphane Grappelli zählten, hatten ja nur sehr wenig von dem überhaupt mitbekommen, was in den USA passierte. Indirekt macht sie das, zumindest für uns europäische Musiker; zu den Mitbegründern des Jazz. Obwohl Django Reinhardt damals sicher nicht in solchen Schubladen und in solchen Worten dachte.

Sie selbst haben noch mit Grappelli gespielt. 

BL: Stimmt, ein- oder zweimal. Ich war damals höchstens dreizehn oder vierzehn und leider noch zu jung, um ihm die Fragen zu stellen, die ich ihm heute gerne stellen würde. Die Auftritte waren auch eher inoffiziell. Es hatte sich einfach ergeben, dass wir mehrfach auf demselben Festival am selben Abend aufgetreten sind. Wir kannten uns damals schon flüchtig. So hat er mich nach jeder dieser Begegnungen eingeladen und wir haben ein bisschen zusammen gespielt.

Der Jazz ist ja inzwischen, zumindest was die Ausbildung anbelangt, sehr akademisiert. Die Wurzeln Ihrer Musik haben immer noch viel mit Werten wie Familie zu tun, mit Privatheit, mit Vertrauen, mit Oral History.

BL: Unsere Musik ist nach wie vor nicht Teil der musikalischen Schule. Man kann sie nirgends offiziell lernen. Aber wenigstens gibt es heutzutage deutlich mehr Seminare und Masterclasses, die sich mit unserer Musik beschäftigen. Aber die Existenz von so etwas wie einer festen Dozentenstelle oder gar Professur für Jazzgitarre mit dem Schwerpunkt Gypsy Jazz wäre zumindest mir nicht bekannt.

Kann man diese Art von Musik nach Ihrem Verständnis überhaupt lehren?

BL: Da wird es tatsächlich schwierig. Heute gehen Leute wie ich natürlich immer wieder auch über die traditionelle Formensprache hinaus. Aber die alten Sinti-Gitarristen, die spielten und spielen diese Musik jeden Tag. Weil sie Teil ihrer Kultur ist. Das ist also mehr als nur Musik. Aber leider werden es immer weniger, die diese Kultur gemäß der Tradition leben. Dadurch verliert sich diese Reinform unseres musikalischen Erbes zusehends, vielleicht auch, weil sie eben nicht akademisch konserviert ist. Heute vollzieht sich alles mehr oder weniger unter dem Aspekt der Vermarktbarkeit. Ich traue mir nicht zu, zu beurteilen, ob das gut oder schlecht ist. Die Welt verändert sich eben. Dabei bleibt natürlich auch einiges auf der Strecke.

Sie selbst haben ja maßgeblich zur Öffnung des Sinti-Jazz beitragen, indem sie nach Amerika gegangen sind und neue Formen und Kontexte ausprobiert haben. In dieser Zeit haben Sie auch die E-Gitarre für sich entdeckt. Ihr Sound-Arsenal hat sich durch all diese Erfahrungen nachhaltig verändert.

BL: Ich brauchte das damals einfach. Ich musste irgendwie aus dieser einen Musik herauskommen, die damals für mich absolut gesetzt war. Ich wollte schon mit vierzehn, fünfzehn musikalisch einfach noch woanders hin. Ich habe damals auch andere Dinge gehört. Dinge, die moderner waren. Das hat mich für fast 20 Jahre von meinen Wurzeln entfernt. Aber ab 2001 habe ich mich wieder dieser alten musikalischen Heimat und Liebe zugewandt, nun natürlich mit breiterem Hintergrund.

Die Platten nach dieser Rückkehr waren sehr erfolgreich.

BL: Sagen wir so: Ich hatte ausreichend Ideen gesammelt. Ich wollte nie eine Kopie des Alten sein. Und ich hatte und habe das Glück, dass das Publikum generös genug war, mir das zu verzeihen. Das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Die Leute haben offenbar verstanden, dass ich älter geworden bin und nicht auf die Rolle eines Nachfolgers von Django Reinhardt festgelegt werden wollte.

Wir sitzen hier gerade unweit von Heidelberg zusammen. Heidelberg ist ein Schwerpunkt der Antiziganismus-forschung. Ist ihre Musik politisch? 

BL: Nicht unbedingt, nein. Ich bekomme natürlich vieles mit und habe auch selbst die Erfahrung gemacht, nicht immer der Willkommenste zu sein und oft nicht in die gesellschaftlichen Vorstellungen zu passen. Bei mir hat sich dieses Gefühl der Ausgrenzung natürlich durch die vielen Konzerte überall auf der Welt ein bisschen verloren. Aber; und dabei möchte ich es auch bewenden lassen: Es bleibt schwierig. 

Ich will ganz offen sein. Ich habe das Gefühl, Ihre Leistung wird nicht ausreichend verstanden und gewürdigt.

BL: Dann antworte ich Ihnen in derselben Offenheit: Das kann man in der Tat so sehen. Es ist ein Problem der Anpassung und Abgrenzung. Aber eines ist klar: Wenn eine solche Musik ankommt, wenn darüber geredet wird, wenn versucht wird, ihre Bedeutung zu erfassen und zu benennen, dann fällt das auf uns alle als Sinti- Gemeinschaft zurück und tut uns gut. Denn das bedeutet Anerkennung. Und vielleicht kommen dann irgendwann tatsächlich bessere Zeiten. Ansätze dafür sind ja schon länger da. Aber wie gesagt es bleibt schwierig.

In einer halben Stunden werden Sie beim “Enjoy Jazz” Festival auf der Bühne stehen und mit Stochelo Rosenberg und Hono Winterstein das Abschlusskonzert spielen. Wie würden Sie jemandem, der unentschlossen draußen vor der Tür steht, ihre Musik erklären?

BL: Das weiß ich nicht. Ohne Vorkenntnisse ist das schwer in Worte zu fassen. Aber die Musik ist ja sowieso durch nichts zu ersetzen. Das heißt, er müsste sich einfach nur die Musik anhören, um sie zu verstehen. Sie auf sich wirken lassen. Und wenn er Vorbehalte hat, sollte man ihn vielleicht wohlmeinend und freundschaftlich am Ärmel fassen und ihn sanft mit hineinziehen in diesen Saal. In der Musik erklärt sich dann alles Weitere ganz von selbst.