„Man kann sich nicht zum Jazzmusiker machen – man ist es!” – Sonny Rollins

Vor genau 60 Jahren wurde er vom Marketingmanager seiner damaligen Plattenfirma effektvoll zum “Saxophone Colossus” erhoben: Sonny Rollins, inzwischen 85, ist er heute der bedeutendste lebende Musiker einer Generation, die sich noch frei und ohne enzyklopädische oder verschulte Vorprägung am Jazz und seinen damals noch unerschöpflich erscheinenden Möglichkeiten abarbeiten konnte, denn die Landkarte des Modern Jazz war noch lange nicht vermessen. Vorbilder gab es gerade so viele wie es brauchte, um angefüllt mit neuen, unverbrauchten Ideen und voller Inspiration auf seine ganz eigene Reise zu gehen. Sie waren, wie in Rollins‘ Falle Thelonious Monk, vielfach zugleich auch persönliche Mentoren. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass Kreativität damals eine völlig andere Funktion hatte als heute. Wo in unseren Tagen im Jazz allenfalls zögerlich, noch nicht voll ausgeleuchtete Nischen besetzt werden (wobei die Impulse zumeist gar nicht mehr aus dem Jazz, sondern längst aus anderen Genres kommen), mussten damals leere Räume gefüllt werden, deren Größe noch gar nicht absehbar war. Natürlich gab es für einen jungen Saxophonisten wie Sonny Rollins die Kurssetzungen durch Coleman Hawkins, natürlich gab es Charlie Parker, aber vor allem gab es unvorstellbar viel Platz, um sich fernab vom Epigonentum musikalisch immer wieder neu zu verorten. Es gab, in rasanter Abfolge und beginnend mit dem Bebop, über drei Jahrzehnte hinweg kollektive musikalische wie gesellschaftliche Aufbrüche, die jeweils Tradiertes niederrissen und individuelle, auch außermusikalische Rechte proklamierten. Ein so originärer musikalischer Geist wie Sonny Rollins lässt sich nur aus diesem Klima heraus denken. Verbissen, schroff, grenzenlos und ohne Kompromisse schliff er seinen mächtigen und nicht selten zornig-derben Ton und entwickelte mit seinem Stream of Consciousness ein hoch assoziatives Improvisations-Verfahren, das hinsichtlich Struktur, Melodieführung und Aufsplittung des Beats bis heute gültige Maßstäbe nicht nur auf seinem Instrument gesetzt hat. Diese Leistung hat, keine Selbstverständlichkeit im Jazz, sukzessive eine sehr breite Anerkennung gefunden. Rollins hat praktisch alle maßgeblichen Musikpreise erhalten: vom Polar-Prize, dem sehr hoch dotierten “alternativen Nobelpreis für Musik”, über die NEA Jazz Masters Fellowship und den Kennedy-Preis bis hin zum Grammy für sein Lebenswerk. Ganz aktuell ist die vierte Ausgabe von Sonny Rollins “Road Shows”-Serie auf CD erschienen. Aus seinem rund 300 Konzertmitschnitte aus fünf Jahrzehnten umfassenden Privatarchiv stellt Rollins hier jeweils idealtypische fiktive Konzerte zusammen, die ihn auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeigen. Das tröstet darüber hinweg, dass der stilbildende Tenorsaxophonist seine bis dahin sehr rege Konzerttätigkeit im letzten Jahr einstellen musste. Im Zuge der Veröffentlichung des Albums ergab sich die seltene Gelegenheit, mit Sonny Rollins zu sprechen. 

 

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2016 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

 

Mr. Rollins, lassen Sie uns kurz einen Blick zurück werfen. Sie wurden 1930 in Harlem geboren, einem Schmelztiegel, der damals geradezu angefüllt war mit Musik.

SR: Oh ja, und ich empfinde es als großes Glück, in Harlem geboren worden zu sein. Es war das Epizentrum des Jazz. Praktisch alle großen Jazzmusiker kamen nach New York, um dort zu spielen. Harlem war aber auch das Epizentrum der Black Community im Allgemeinen. Deshalb war dieser Ort so wichtig. Hier traf ich auf Menschen, die mich inspiriert haben. Das gilt insbesondere für Fats Waller. Ich habe ihn als kleiner Junge gehört und war sofort von seiner Musik fasziniert. Von da an wusste ich, was ich für den Rest meines Lebens machen wollte.

Sie sprachen von der Black Community. Für Sie war Jazz immer auch eine politische Musik. Hat sie etwas verändert?

SR: In gewisser Weise hat sich durchaus etwas an der Situation der Schwarzen geändert, aber andererseits ist das Grundproblem unverändert präsent. Wirkliche Fortschritte in Sachen Gleichheit zu erzielen, ist sehr schwierig. Vieles ist heute einfach nur historisch kaschiert, substanziell jedoch unverändert geblieben. Der Fortschritt ist eine Schnecke. Das ist alles sehr kompliziert. Wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen: Die Welt wird sich nie wirklich verändern. Die Hoffnung darauf, dass sich dauerhaft etwas zum Besseren wenden könnte, dass der Mensch an sich ein besserer würde, das ist höchstens der Stoff für einen  Fantasy-Roman. Es wird nicht passieren. Die Welt ist offenbar nicht dafür geschaffen, in Frieden zu existieren. Nicht diese Welt. Vielleicht gibt es einen solchen paradiesischen Ort irgendwo im Universum. Unsere Welt ist es nicht. Unsere Welt war schon immer eine der Missgunst, des Recht-haben-Wollens, das Kampfes und des Tötens. Wir müssen das akzeptieren. Kleine Schritte hin zu einer Verbesserung mögen immer wieder mal möglich  sein und sogar gelingen. Aber das Große und Ganze ist vorbestimmt als unveränderlich. 

Ihr eigenes Leben war ja ebenfalls gekennzeichnet durch unermüdliches Kämpfen für mehr Freiheit. Haben wenigstens Sie in sich so etwas wie Frieden gefunden, wenn es schon in der Welt nicht möglich zu sein scheint?

SR: Das ist eine sehr gute und berechtigte Frage. Nein. Ich habe niemals Frieden in mir gefunden. Lassen Sie mich das erklären, damit kein falsches Bild entsteht. Ich ringe jeden Tag damit, aus, mir selbst einen besseren Menschen zu machen. Und wenn ich auf der Bühne stehe, kämpfe ich darum, aus mir einen besseren Musiker zu machen. Das ist ein permanenter Prozess. Innerer Frieden wäre ein abschließendes Ergebnis: ein Zustand, zu dem es nie kommen wird. Wobei vielleicht doch so etwas wie ein persönlicher Frieden darin liegt, erkannt zu haben, dass das Leben genau so funktioniert, dass das Höchste nicht möglich ist. Denn das Glück, als Mensch oder Musiker erreicht zu haben, was in meiner  Vorstellung möglich ist, das habe ich nicht erfahren. Man kann immer noch gerechter, noch großzügiger, noch mehr den Menschen zugewandt sein als ich es bin. Daran arbeite ich unverändert. Jeden Tag. 

Die sind der vielleicht letzte große Repräsentant einer Ära. Spüren Sie so etwas wie eine Verantwortung der Geschichte gegenüber? 

SR: Ich denke, die Geschichte hat mich in den Körper eines Typen namens Sonny Rollins gesteckt und sie wird ihre Gründe dafür gehabt haben. Das ist Karma. Die Unvorhersehbarkeit des Lebens hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Und damit muss ich umgehen. Das gilt für jeden Menschen. Jeder hat seinen eigenen Weg zu gehen. Jedes Leben hat ein anderes Geheimnis, das zu seinem Gelingen oder Scheitern beiträgt. Mein Ziel war es immer, auf diesem Weg eine gewisse Weisheit zu erlangen. Ich wollte immer verstehen, warum ich an diesem Ort bin und was meine Aufgabe ist. Denn nichts geschieht ohne Grund. Wir müssen ihn nur finden.

Sie zählen zu den vergleichsweise wenigen Jazz-Musikern, die für ihre Konzerte angemessen, um nicht zu sagen, üppig honoriert werden. Erinnern Sie sich noch daran, wann und wie Sie diesen Status erreicht haben?

SR: Es war auf jeden Fall schwer.

Aber Sie haben es hinbekommen.

SR: Ich muss das leider ein wenig ausweichend beantworten, damit deutlich wird, worum es mir im Kern geht. Das Schwierige ist, dass die Musik im ersten Schritt von uns verlangt, sich ihr ganz auszuliefern. Sie ist eine spirituelle Kraft. Wir können sie nicht erklären. Sie macht etwas mit und dem wir uns nicht entziehen können. Wer über das Talent zum Musikmachen verfügt, der wird ihm nachgehen, der muss ihm nachgehen, unabhängig davon, welche Folgen das hat. Und unabhängig von ökonomischen Uberlegungen. Als ich damals mit Leuten wie Bud Powell, Miles oder Thelonious Monk gespielt habe, habe ich nie nach Geld gefragt, obwohl ich natürlich gespürt habe, dass die Miete bezahlt sein will. Aber wir haben damals einfach für die Musik gelebt. Wir wollten etwas erschaffen, was unsere ganze Kraft erforderte. Es gab für uns keine Ablenkungen. Wir lebten nur für diese eine Sache. Das ist heutzutage möglicherweise noch schwieriger geworden. Aber Tatsache ist: Wir können unserem Leben sagen, was es sein soll. Und dazu gehört auch, dass derjenige, der ein geregelt hohes Einkommen für sein Lebensverständnis braucht, vielleicht besser Manager oder Arzt werden oder wenigstens eine Musik spielen sollte, die breite Masse auch hören will. Der Jazz ist dafür ungeeignet. Mir war das immer egal. Ich habe nie zuerst an Geld gedacht. Aber ich kenne viele junge Jazz-Musiker; die, nachdem sie geheiratet und Kinder bekommen hatten, mit der Musik aufgehört haben, weil sie damit ihre Familie nicht hätten ernähren können. 

Finden Sie das gerecht?

SR: Nein. Aber: ich finde, dass man das Leben nicht nach seinem ökonomischen Ertrag beurteilen darf. Ich habe so viele wunderbare Menschen in meinem Leben getroffen, die waren Müllfahrer oder haben anfallende Reparaturen an Häusern erledigt und sicher eher wenig Geld damit verdient. Ich habe gelernt: Nichts in dieser Welt lässt sich am Geld sinnvoll messen. Wichtig ist, dass man das tun kann, was einem vorbestimmt ist.   Meinem Fall ist das die Musik. Ich empfinde das als großes Glück. Also mache ich in erster Linie Musik. Für mich hat die Musik nichts mit den alltäglichen Aspekten des Lebens zu tun, nichts mit wirtschaftlichen Überlegungen, sondern mit Werten wie Liebe und Freiheit. Sie ist etwas Prinzipielles.

Der bedeutendste Ausdruck dieser Freiheit in ihrer Musik ist ihr Improvisations-Verständnis, für das Sie den Begriff Stream of Consciousness geprägt haben. Das Faszinierende daran ist für mich das hohe Maß an Struktur, das ihr spontanes Spiel auszeichnet.

SR: Das liegt daran, dass ich immer sehr genau weiß, was ich spiele. Ich muss jede noch so einfache Melodie fast zwanghaft genau studieren. Ich analysiere die Melodie, die harmonische Struktur, die generelle Funktionsweise eines Stückes. Am wichtigsten aber ist die Melodie. Ich übe sie, bis ich sie vorwärts und rückwärts, im Wachzustand und im Schlaf spielen kann, bis sie ein Teil von mir geworden ist und sich gewissermaßen in mir aufgelöst hat. Dadurch verändert sich mein Bewusstsein von dieser Melodie. Ich höre auf, in ihr und an sie zu denken, während ich spiele. Das ist exakt der Moment, an dem die   einsetzt. Vorher macht es keinen Sinn. Dieser Prozess stellt mir unmerklich ein neues Instrumentarium an Möglichkeiten zur Verfügung, aus dem ich mich im Spielen intuitiv bedienen kann. Dann lasse ich die Musik fließen und schaue bzw. höre ihr dabei zu. Alles kommt jetzt aus dem Unterbewusstsein. Ich werde oft darauf angesprochen, woher eine bestimmte Idee oder Phrase kommt, aber ich kann darauf nur sagen, dass ich es nicht weiß. Was ich weiß, ist, dass sie ein Spiegel meines Unterbewusstseins ist. Musik hat ihren Ursprung in der Tiefe des Unterbewussten. Das Bewusstsein dient nur dem Lernen. Es ist nötig, um sich einen Zugang zur Musik zu verschaffen, aber es dient nicht ihrem Vollzug. Das bewusste Handeln ist vielleicht am besten mit den Geschossen eines Hauses vergleichbar. Sie sind das, was dadurch entsteht, dass man auf ein unsichtbares Fundament aufbaut. Und unser Unterbewusstsein steht genau dafür: Es ist das Fundament, die Basis. Wir sehen die Oberfläche, aber wenn wir sie nachbauen oder umbauen wollen, müssen wir das Fundament kennen. Natürlich ist ein solches Fundament ungeeignet, um darin zu leben. Wir leben in den oberen Stockwerken, aber wir können dieses Leben nur führen und verstehen, weil es ein Fundament hat. Und dafür steht das Unterbewusste – im Leben wie in der Musik. Es ist die Summe unserer Erfahrungen, unserer Ängste, unserer Hoffnungen. Der Ansatz, der zum Beispiel auch im Zen-Buddhismus eine Rolle spielt, alles aus der Tiefe aufzubauen und zu begreifen, ist für mich die Entsprechung meines Verständnisses von Improvisation: das Schöpfen aus dem Unterbewussten, das zu einem Stream of Consciousness wird. Das Bewusstsein wird zurückgeführt auf den tiefgründigsten Punkt der eigenen Existenz, es wird aus dem Unterbewusstsein gespeist. Dadurch wird uns bewusst, dass es hinter oder unter unserem Bewusstsein noch etwas anderes gibt, das der eigentliche Grund oder der Grundstoff für alles ist. Das ist der Ort der Musik. Und dort denke ich nicht, während ich spiele dort weiß ich. Das heißt nicht, dass ich weiß, was ich als Nächstes spiele, sondern dass das Wissen mich spielt. Dieser Prozess vollzieht sich so schnell, dass man gar keine Chance hätte, ihn gedanklich nachzuvollziehen. Ich habe das natürlich versucht. Aber es war mir nicht möglich, zur selben Zeit zu denken und zu spielen. Wer im Spielen zu denken beginnt, zerstört den Fluss der Musik.

Bedeutet das, dass Sie unmittelbar spüren, was gerade in ihrer Musik geschieht, und dass Sie davon auch immer wieder selbst überrascht werden?

SR: Ja. So ist es. Wenn Sie Leute wie Louis Armstrong hören oder John Coltrane, dann spüren Sie, dass sie immer genau wissen, was sie spielen, und dass ihr Spiel zugleich eine unerklärliche Tiefe besitzt. Weil sich darin die Tiefe ihres Unterbewusstseins spiegelt. Es geht nicht nur darum, dass sie wissen, wie man etwas zu spielen hat und dass sie die dafür nötige Technik abrufen können, sie befördern etwas an die Oberfläche, das größer ist als sie.

Apropos Unterbewusstsein: Gehört dazu auch, dass man während der Aufnahme-Sessions bereits ahnt, dass Alben wie “Saxophone Colossus” oder “The Bridge” zu Meilensteinen des Jazz werden würden?  

SR: Im Grunde ist das eine ziemlich lustige Frage. Denn das Verrückte ist, dass man eigentlich nie weiß, wohin die Dinge führen. Man kann das Besondere vielleicht spontan erkennen, aber es noch nicht einordnen. Ich wusste immer, dass ich über ein Talent für die Musik verfüge. Und Musik ist eine Frage des Talents. Man kann sich nicht zum Jazzmusiker machen – man ist es. Irgendwann geht man ins Studio und nimmt eine Platte auf. Wenn man Glück hat, mögen die Leute, was man eingespielt hat. Das ändert nichts daran, dass man einfach nur, wie sonst auch, versucht hat, einen guten Job zu machen. Aber ich konnte unmöglich während der Aufnahmen vorhersagen, wie sie später da draußen aufgenommen werden würden.  

Gibt es für Sie eigentlich den perfekten Konzert-Moment?

SR: Während ich spiele oder in der Nachbetrachtung?

Sowohl als auch.

SR: Ja und nein. Ich würde sagen, es ist grundsätzlich wichtig, dass ich das Gefühl habe, meine Ideen haben funktioniert und die Musik ist ins Fließen gekommen. Und wenn dann auch noch meine Band zufrieden und das Publikum bewegt war, dann kommt in mir durchaus der Eindruck auf: Das war ein wirklich guter Abend. Es gibt eine Kraft, die mich beim Spielen führt, die ist mal stärker und mal schwächer, was auch damit zusammenhängt, wie frei ich in meinen Gedanken gerade bin und wie ich sie über mein Saxophon ausgedrückt bekomme. In der Nachbetrachtung gibt es natürlich manchmal das auf den ersten Blick ein wenig verstörende Phänomen, dass das Publikum ein Konzert mochte, das ich nicht mochte. Das sind dann die Momente, in denen einem klar wird. Dass die eigene Erwartungshaltung natürlich immer die höhere ist und auch sein sollte. Das sage ich mit allem Respekt. Denn schließlich spiele ich für das Publikum. Mit ihm während eines Konzerts auf eine höhere Ebene der Kommunikation zu gelangen, ist nach wie vor faszinierend und Abend für Abend ein enormer Antrieb. Deshalb bin ich sehr glücklich, wenn die Leute mögen, was ich spiele. Aber ich muss gestehen: noch glücklicher bin ich, wenn ich selbst mögen kann, was ich spiele. 

Ihre Selbstpräsentation auf der Bühne ist ja betont seriös. Verstehen Sie das auch als sozialpolitisches Statement?

SR: Das kann man durchaus so sehen. Es kommt aus der Vergangenheit. Der Jazz erhielt von der großen Musikgemeinde nie eine wirkliche Akzeptanz als ernsthafte Musikform. Jazz wurde als nicht werthaltig betrachtet, sondern vielfach als Jux- oder Tanzmusik ohne gesellschaftliche oder intellektuelle Bedeutung abgewertet. Das hatte natürlich auch sozialpolitische oder offen rassistische Gründe. Jedenfalls ist das alles in seiner Geschichte eingeschrieben. Viele Jazzmusiker haben darunter gelitten, zum Beispiel auch im Umgang mit Plattenfirmen. Also haben immer mehr Musiker dagegen rebelliert. Mit ihrer Musik und dadurch, dass sie sich auf der Bühne betont seriös zu geben begannen. Nehmen Sie Charlie Parker. Wenn er spielte, stand er meistens aufrecht, ohne irgendwelche ekstatischen Verrenkungen. Er spielte einfach nur seine Musik. Das heißt nicht, dass man als Musiker oder Zuhörer nicht trotzdem auch Spaß haben konnte. Das hat Dizzy Gillespie ja sehr deutlich bewiesen. Der Humor war Teil seiner Persönlichkeit, prägte oder beschädigte aber nie die Seriosität seines Spiels. In dieser Tradition sehe ich mich. ich habe damals erkannt, dass es wichtig ist, auch mit der Art der Präsentation auf der Bühne etwas auszusagen, weil das als Teil der Performance wahrgenommen wird und nicht losgelöst von der Musik betrachtet werden kann. Es ging vor allem damals in den 40er und 50er-Jahren um eine neue Ernsthaftigkeit in unserer Musik. Wir wollten, dass der Jazz musikalisch und gesellschaftlich respektiert wird.

Apropos Bühnenerfahrung: Aus gesundheitlichen Gründen konnten sie zuletzt leider keine Konzerte mehr gegeben. Werden wir Sie noch einmal auf einer Bühne erleben?

SR: Ich habe tatsächlich einige gesundheitliche Probleme. Aber es gibt dafür jetzt ganz neue medikamentöse Therapieformen. Natürlich hoffe ich, dass sich dadurch die Möglichkeit ergeben könnte, doch noch einmal auf die Bühne zurückzukehren. Im Moment kann ich ihre Frage aber weder mit einem klaren Ja noch mit Nein beantworten. 

Ich betrachte das trotzdem als gute Nachricht zum Schluss. Eines würde mich allerdings noch interessieren. Wenn Sie sich aus der gesamten Jazzgeschichte eine Band zusammenstellen könnten, wen würden Sie anheuern?

SR: Es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage: Da gäbe es so viele. Aber auf alle Fälle und zuallererst würde ich gern mit Fats Waller spielen. Wissen Sie, das Schöne an dieser Frage ist, dass sie mich insofern glücklich macht, als sie mir vor Augen führt, mit wie vielen wunderbaren Musikern ich im Laufe der Jahre spielen durfte und wie stark ich von ihnen beeinflusst wurde. Da fällt mir sofort Count Basie ein. Ihn gekannt zu haben, war ein Glücksfall. Und dann mochte er mein Spiel als junger Musiker auch noch sehr. Das war erhebend. Leider lernten wir uns erst gegen Ende seiner Karriere kennen, sodass sich nie die Gelegenheit ergab, mit ihm zu spielen. Das würde ich gern nachholen. Und natürlich müsste ich auch Louis Armstrong auf meine Liste setzen. Aber wie gesagt, das Wohltuende an diesem Gedankenspiel ist, zu erkennen, wie viel Glück ich in meinem Leben und mit meiner Musik hatte. Obwohl ich weiß, dass das im Grunde nicht mein Verdienst ist. Die Wahrheit ist, ich habe ein Talent mitbekommen. Nicht ich habe mich zu dem gemacht, was ich bin, sondern dieses mir gegebene Talent! Diese Erkenntnis trifft mich übrigens hart. Denn ich kann mich nicht hinstellen und sagen, was für ein großartiger Musiker dieser Sonny Rollins doch ist und dass er das selbst aus sich gemacht hat. Nein, es wurde mir gegeben.

Aber Sie haben hart daran gearbeitet.

SR: Zweifellos. Aber ich habe es geliebt. Also war es genau genommen gar keine Arbeit. Zumindest habe ich es nie als solche empfunden. Wissen Sie eigentlich, wie das bei mir abgelaufen ist, wenn ich ein Konzert gespielt habe? Vor dem Soundcheck habe ich immer schon ein bisschen auf dem Saxophon gespielt, nach dem Soundcheck habe ich in meiner Garderobe einfach weitergespielt, dann kam das Konzert, und nach dem Konzert habe ich Backstage immer noch gespielt. Oft habe ich einfach allein so lange weitergespielt, bis das Licht ausging. Weil es das ist, was ich immer machen wollte. ich liebe es. Das ist mein Leben.