Nicole Mitchell – Die Brückenbauerin

Christian Broecking Award for Arts Education 2024 

 

In diesem Jahr vergibt Enjoy Jazz in Kooperation mit der Manfred Lautenschläger Stiftung zum zweiten Mal den mit 10.000 Euro dotierten Christian Broecking Award for Arts Education.  

Dafür wurde eine international hochkaratig besetzte Jury eingesetzt: Aida Baghernejad (Kulturjournalistin und Bloggerin, Berlin), Maxi Broecking (Kulturjournalistin und Verlegerin, Berlin), Prof. Terri Lyne Carrington (Christian Broecking Award 2023; Musikerin, Komponistin und Produzentin; Gründerin und künstlerische Leiterin des Berklee Institute of Jazz and Gender Justice, Boston, MA), Sarah Johnson (Direktorin des Weill Music Institute, Chief Education Officer der Carnegie Hall, NYC), Rainer Kern (Gründer und künstlerischer Leiter des Enjoy Jazz Festivals, Heidelberg), Prof. George Lewis (Komponist und Edwin H. Case Professor für amerikanische Musik, Komposition und Musikgeschichte, Columbia University, NYC), Prof. Doris Sommer (Ira Jewell Williams Professorin für romanische Sprachen und Literaturen, Direktorin des Graduiertenkollegs für Spanisch, Harvard University, Cambridge, MA). Auf Basis einer von der Jury selbst erstellten Shortlist entschieden sich die sieben Juror:innen in gemeinsamer Sitzung dafür, die Flötistin, Komponistin, Hochschullehrerin und Musikfunktionarin Nicole Mitchell mit dem Christian Broecking Award for Arts Education 2024 auszuzeichnen.  

Mitchell war nicht nur die erste Frau an der Spitze der einflussreichen Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM). Sie engagiert sich seit vielen Jahren und auf vielfaltige Weise auch in der Jazzausbildung und
-vermittlung. Die vielfach preisgekrönte Künstlerin ist Professorin für Musik an der University of Virginia, lehrte zuvor an der University of California, Irvine sowie der University of Pittsburgh und war Co-Leiterin der Avant-Garde Jazz Jam Sessions in Chicago. Unter anderem gründete die Flötistin und Komponistin die rein weiblich besetzte Band Samana mit und bildete mit dem Schlagzeuger Hamid Drake ein einflussreiches Duo. 

Nicole Mitchells Musik zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie, wie sie selbst es formuliert, „visionäre Welten erschafft, die eine Brücke zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten schlagen“. Die Fähigkeit dazu verdankt sie ihrer Mutter, die malte und schrieb und dabei vor der kleinen Nicole Ideen aus anderen Welten Gestalt annehmen lies. „Sie hat mir gezeigt“, erinnert sich Mitchell, „wie man aus Leere oder Nichts mit der Kraft der Kreativität eine Kombination aus Vertrautem und Unbekanntem oder noch nie dagewesenem erschaffen kann – sei es mit Musik, visueller Kunst oder durch das Schreiben einer Geschichte.“ Nicole Mitchells Lieblingsbild, man ahnt es schon, ist das der Brücke. Immer wieder kommt sie in Gesprächen darauf zurück. Sie erklärt das damit, dass wir zuerst immer einen vermeintlich klaren und sicheren Standpunkt haben mit unseren Gedanken, unserer Wahrnehmung, unserem Weltverständnis. Doch plötzlich, durch Inspiration, aber manchmal auch durch Ängste, bricht etwas auf und wir erkennen, dass es da buchstäblich noch eine andere Seite gibt, etwas Neues, etwas das den eigenen Standpunkt infrage stellt. Auf einmal ist da ein Spalt, der überbrückt werden muss.
„Das ist es, was ich suche, wenn ich improvisiere“, sagt Mitchell: „Deshalb liebe ich es zu improvisieren. Denn Improvisation ist eine Praxis, die es einem ermöglicht, sich nicht auf die Kleinheit des eigenen Seins und der eigenen Realität zu konzentrieren, sondern tatsachlich die Größe der Möglichkeiten, der Überraschung und der Spontaneitat zu erleben.“ So baut Nicole Mitchell in ihrer Musik permanent Brücken hin zu diesem anderen. 

Und auch, wenn sie über ihre Arbeit für den AACM spricht, verwendet sie das Bild des Brückenbaus wie eine persönliche Signatur. „Seit einigen Jahren verstehe ich mich als Brücke zwischen zwei Generationen. Wir haben einen Kern von Mitgliedern, die etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sind als ich, und dann gibt es die neuen Mitglieder, die in ihren Zwanzigern und Dreißigern sind, also zehn bis fünfzehn Jahre junger als ich. Ich bin genau dazwischen! Ich habe versucht, dabei zu helfen, die Verbindung zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Gruppen zu entwickeln, die unterschiedliche Sichtweisen auf sich selbst und die Welt haben.“  

Darüber hinaus ist Nicole Mitchell eine leidenschaftliche Lehrerin mit hoch entwickeltem Gespür für Themen wie Intersektionalität und Empowerment. Sie selbst hat das einmal so beschrieben: „Im Hinblick auf die Stärkung junger Frauen arbeite ich gerne mit Texten, die ihre Anliegen ansprechen. Es gibt einfach keine Musik für sie! Wissen Sie, ich bin Mutter und meine Tochter ist ein Teenager. Die Hälfte der Musik, die sie hört, möchte ich ausschalten, weil es nur um Dinge geht wie ,in den Club zu gehen’ und all diesen Kram, der nichts mit der natürlichen Lebenswirklichkeit einer 14-Jahrigen zu tun hat.“ Auch als Universitätsprofessorin hinterfragt sie etablierte Strukturen: „Ich möchte meine Studierenden ermutigen, so viel wie möglich zu komponieren, sich aber auch selbst durch Tagebuchführung und andere Formen der Kunst besser zu erforschen, denn all das schlägt sich am Ende in der Genauigkeit des musikalischen Ausdrucks nieder.“ 

Mit dem Broecking Award schließt sich übrigens ein kleiner Kreis. Denn der 2021 verstorbene Namensgeber, der Musiksoziologe Christian Broecking, ein unvergessener Freund unseres Festivals, führte noch selbst Gespräche mit Nicole Mitchell, zum Beispiel für sein aktuell leider vergriffenes Buch „Jeder Ton eine Rettungsstation“. Wir sind uns sicher, er hätte die Entscheidung für diese außergewöhnliche Musikerin und Musikvermittlerin sehr begrüßt. 

Nicole Mitchell ist als Teil des grandiosen Artifacts Trio live bei Enjoy Jazz zu erleben: in der Alten Feuerwache, am Dienstag, 08.10., um 20 Uhr. Vor dem Konzert findet die feierliche Übergabe des Broecking Awards an die Künstlerin statt.