In praktisch keinem Beitrag über unseren diesjährigen „Artist in Residence“ Nduduzo Makhathini fehlt der Hinweis darauf, dass es sich bei ihm nicht nur um einen Musiker, sondern zugleich um einen ausgebildeten Heiler handelt. Was aber heißt das: Heiler? Wir wollen den Versuch unternehmen, etwas besser zu verstehen, was im Falle Makhathinis unter diesem Begriff genau zu verstehen ist und welchen Einfluss dieses Verständnis auf seine Musik hat.
Noch bevor er zum Jazzmusiker wurde, absolvierte Makhathini in seiner Heimat eine Ausbildung zum Sangoma, zum Heiler und Wahrsager auf Basis der überlieferten afrikanischen Medizin. Die gesellschaftliche und politische Bedeutung dieser seit 2007 in Südafrika auch gesetzlich anerkannten traditionellen heilpraktischen Tätigkeit ist nach wie vor enorm. Sie umfasst u.a. die Heilung körperlicher und spiritueller Krankheiten, Wahrsagerei, Geburts- und Sterbens- bzw. Todesrituale, aber auch die Wahrung der Tradition und der religiösen Praxis. „Als praktizierender Sangoma nutze ich das Klavier zum Wahrsagen“, beschrieb Makhathini kürzlich in einem Interview die untrennbare Verbindung zwischen seiner Arbeit als Heiler und der Musik: „Es ist wie das Werfen der Knochen. Manchmal spiele ich einfach spontan etwas, das wie eine Form der Wahrsagerei ist.“
In Sudafrika gibt es laut WHO derzeit über 200.000 Sangomas bei knapp 30.000 Schulmedizinern. Sie werden mehr oder weniger regelmäßig von rund zwei Dritteln der Bevölkerung konsultiert. Ein Sangoma praktiziert auf Grundlage von Ngoma, einer rund 4.000 Jahre alten, ganzheitlich ausgelegten philosophischen Praxis, die ihrerseits wesentlich auf dem Glauben an die Geister der Ahnen beruht. In diesem Sinne wurden auch Makhathini schon als Kind von seiner Großmutter, auch sie eine Sangoma, heilende Kräfte zugesprochen.
In seiner Musik vereint Makhathini synergetisch drei Ansätze: Jazz, Aufklärung, Heilung – er selbst spricht ganzheitlich von „healing sonics“.
Jazz: Zum Jazz fand Nduduzo Makhatini letztlich über den großen spirituellen Avantgardisten John Coltrane. Nachdem er in der Bibliothek zufällig dessen Album „A Love Supreme“ in die Finger bekommen und die Liner Notes gelesen hatte, in denen Coltrane über seine spirituelle Erweckung sinniert, hat Makhathini zum allerersten Mal in seinem Leben ein Jazzalbum komplett durchgehört: „Ich habe meine eigene Stimme als Pianist erst durch John Coltranes ‚A Love Supreme‘ verstanden. Ich bin schon immer auf der Suche nach einer Spielweise gewesen, die widerspiegelt oder heraufbeschwört, wie meine Leute tanzen, singen und reden.“
Aufklärung: Makhatini konnte in der Musik von Coltrane dessen afrikanische Wurzeln wie ein Echo hören. Er nahm dieses Echo immer als eine Art transzendierte Sehnsucht wahr, mit der er sich verbinden konnte. Denn insbesondere in der Improvisation manifestieren sich für Makhathini die Stimmen für sich der Vorfahren und damit auch kollektive Leiderfahrungen. Am bislang deutlichsten auf seinem Blue-Note-Debut von 2020 „Modes of Communication: Letters from the Underworlds“. Makhathini erklärte dazu, dass er, seitdem er die Gabe des Wahrsagens für sich akzeptiert habe, Nachrichten aus den Unterwelten empfange, die er auf diesem Album zu dokumentieren versucht hat. Was meint er damit? Er überprüft fragwürdige historische Erzählungen mit dem Ziel, sie aufzubrechen und für neue Lesarten zu öffnen. Er selbst formuliert es folgendermaßen: „Dieses Album schlägt eine Brücke über den Atlantischen Ozean und stellt bestehende Narrative in Frage – wie den Sklavenhandel über das Meer und wie Wasser als Transportmittel in die Sklaverei genutzt wurde. Denn in der afrikanischen Kosmologie geht man davon aus, dass Wasser einen heilenden Raum schafft. Also kehren wir diese Erzählungen um.“
Heilung: Diese Umkehr von Narrativen ist Ausdruck von Nduduzo Makhathinis Bemühen, Wege zur spirituellen Heilung erlittenen Unrechts zu ebnen. Insbesondere stellt es den Versuch dar, über die Musik und unter Bezug auf die afrikanische Kosmologie und Spiritualität die zahllosen Traumata zu heilen, die der Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis und in den Körpern hinterlassen hat. Hierfür gestaltet Makhathini seine Musik als einen geschützten rituellen Raum, der intensive Gemeinschaftserlebnisse ermöglicht und ihnen Struktur verleiht.
Zusammenfassend könnte man sagen, es geht Nduduzo Makhathini in der Trinität aus Musik bzw. Jazz, Aufklärung und Heilung darum, Verbindungs- und Affinitätspunkte in Bezug auf eine innere Heimat, auf Kultur, Sprache und Identität, zu finden und zu vermitteln. Er nimmt also Bezug auf eine Mitte, die durch die Kolonialzeit und insbesondere die Versklavung kollektiv dezentriert und in menschenverachtender Weise zerstört wurde, greift die noch bestehenden traditionellen Verbindungspunkte auf und erschafft aus ihnen mittels der heilenden Kraft seiner Musik ein neues Zentrum.
Unseren „Artist in Residence 2024“ Nduduzo Makhathini können Sie in diesem Jahr mit drei spannenden Projekten bei Enjoy Jazz erleben: im Duo mit Vijay Iyer (Eröffnungskonzert, BASF Feierabendhaus, 02.10.), mit seinem Trio (Alte Feuerwache, 05.10) und solo im Rahmen eines Well-Being Concerts mit anschließendem Talk (Karlstorbahnhof, 06.10.).
Datum: 7. September 2024