Louis Sclavis – “Wenn ich keine Band habe, habe ich keine Musik”

Louis Sclavis ist ein gern gesehener Gast bei Enjoy Jazz. Ein exponierter Platz in der Geschichte des europäischen Jazz ist ihm ohnehin sicher. Sclavis war vor 40 Jahren einer jener Musiker, die Bartóks Idee einer “Folklore lmaginaire“ auf den Jazz übertrugen. Bald jedoch distanzierte er sich von diesem Ansatz und fand zu einem eigenen Stil, verbunden mit einem der schönsten Group Sounds des zeitgenössischen Jazz. Das folgende Gespräch haben wir 2014 geführt. 

Sie widmen sich auf ihrem neuen Album einem Thema, das gerade wieder von höchster politischer Aktualität ist: der Emigration. Verstehen Sie Ihr Album auch als politisches Statement?

LS: Nein, nicht in diesem engen Sinne. Emigrationsbewegungen ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte und sind daher auch oder vielleicht sogar in erster Linie ein kulturelles Phänomen. Aber letztlich ist das die Entscheidung des Hörers, ob er das Thema in dieser Musik kulturell oder politisch oder sogar in seiner tagespolitischen Dramatik und Tragik begreifen möchte. Ich selbst musste diese Entscheidung im Prozess der Entstehung des Albums übrigens gar nicht treffen. Für mich ist das Thema ein abstraktes. Nehmen Sie nur einen Titel wie “L’Homme Sud“, der Mann aus dem Süden, man kann darin das Thema Dritte Welt sehen oder fernab von Geographie oder Politik den  Süden abstrakt als eine Art Sehnsuchtsort begreifen. 

Sie haben mit sehr vielen Musikern gespielt, die ihre Heimatländer verlassen haben. Haben Sie dadurch ein anderes Verhältnis zum Thema Emigration?

LS: Ich spiele ja nicht mit einem Musiker, weil er aus einem bestimmten Land kommt, sondern weil ich interessant finde, wie oder was er spielt, und weil ich mir gut vorstellen kann, dass sich daraus etwas Neues für mich ergibt. Ich würde den Begriff der Emigration deshalb weiter fassen und auch im Sinne von Bewegung, Veränderung und neuen Wegen verstehen. Es geht vielmehr um Bewegung als um Wurzeln oder den Verlust von Wurzeln. Ich bin kein Freund davon, über Wurzeln zu sprechen. Das ist ja ein richtiges Modewort geworden. Ständig fragt einen jemand nach den Wurzeln. Aber ich bin doch kein Baum! Wäre ich ein Baum, bräuchte ich Wurzeln – als Mensch brauche ich Beine.

Heißt das, die Herkunft ist als Inspirationsquelle in der Musik überschätzt?

LS: Inspiration ist für mich grundsätzlich keine konzeptionelle Frage. Die Musik kommt aus mir.  Ich komponiere jetzt seit über 40 Jahren. Und noch nie habe ich etwas komponiert und mir danach überlegt, wie das Ensemble aussehen könnte, das diese Musik dann spielt. Ich treffe immer zuerst eine Auswahl der Musiker und erst dann beginne ich zu schreiben. So war es auch diesmal. Ich habe mich dafür entschieden, mit Keyvan Chemirani einen Perkussionisten hinzuzunehmen und begann dann, die Stücke deutlich perkussiver und tänzerischer auszurichten als zuvor mit dem Atlas Trio. Man könnte also sagen: Die Band ist die wichtigste Inspirationsquelle. Wenn ich keine Band habe, habe ich keine Musik. Ich brauche immer zuerst den Menschen. 

Das wundert mich. Ihre Musik klingt für mich irgendwie unabhängig.

LS: Das kann täuschen, weil die Band ja immer schon Teil der Komposition ist. Man kann also sagen, ich komponiere zuerst die Band, dann die Musik, aber beides ist im Grunde ein ein einziger Vorgang. 

Sie haben die Grenzen ihres Instruments verschoben. Nicht nur als Virtuose, der Sie fraglos sind, sondern als sehr kluger Kommunikator und Impulsgeber. Wie wichtig ist hierbei die Technik noch?  

LS: Wenn Sie das aktuelle Album nehmen, dann werden Sie darauf eigentlich sehr wenige wirklich virtuose Passagen finden. Es ist im Grunde sehr einfach gehalten. Was ich diesmal wollte, war, Melodien zu schreiben. Ich habe den Eindruck, dass Melodien gerade wieder etwas aus der Mode kommen. Ich habe das Album auch deshalb „Silk And Salt Melodies“ genannt, weil Sie darauf überall Melodien finden werden – tonale oder atonale, alles ist hier Melodie. 

Selbst Ihre abstrakteren Arbeiten haben ja diesen starken melodischen Aspekt. Ich denke da an ihre Zusammenarbeit mit Freejazz-Musikern wie Peter Brötzmann.

LS: Wenn ich mich für ein Projekt entscheide, dann möchte ich möglichst alle Facetten darin unterbringen, die mir wichtig sind – zum Beispiel melodische und sehr freie Teile. Ich mag es einfach, die Dinge durchzumischen. Aber auch hier gilt: Die Band definiert die Grenzen im Sinne der Möglichkeiten wie der Limits. Die Band sagt mir, wohin ich gehen kann. 

Der daraus zwangsläufig entstehende Mix wirkt in Ihrem Fall trotzdem nie beliebig, sondern einzigartig. 

LS: Ich schreibe seit Jahrzehnten für Bandprojekte, Film, Theater oder Ballett. Nach dieser langen Zeit ist man einfach man selbst. Nach und nach schiebt sich die eigene Stimme so stark in den Vordergrund, dass sie irgendwann unverrückbar da ist. Was man auch schreibt, schreibt man aus sich selbst heraus. Das ist Erkennbarkeit. Alles klingt nach mir. 

Vor über vierzig Jahren haben Sie sich in Lyon dem ARFI Musikerkollektiv angeschlossen, die Bartöks Vorstellungen einer “Folklore lmaginaire“ auf den Jazz übertragen haben. Ich denke, dass es bis heute zumindest einen folkloristischen Aspekt in Ihren Melodien gibt.

LS: Nicht wirklich, nein. Vielleicht kann man bisweilen in meinen Kompositionen Bezüge zu traditioneller Musik aus bestimmten Regionen der Erde erkennen, mag sein. Aber wenn ich komponiere, spielt dieser Aspekt für mich keine Rolle. Er stellt also keine Quelle der Inspiration dar. Ich habe wirklich nichts mit der „Folklore lmaginaire“ zu tun. Das ist eine sehr alte, schon in den 70er-Jahren abgebrochene Beziehung ohne Bedeutung. Bei der „Folklore lmaginaire“ geht es eigentlich auch gar nicht um Musik, es war ein eher philosophisches Konzept, das davon ausging, dass niemand dieselben kulturellen Wurzeln besitzt und es deshalb auch nicht sinnvoll ist, nach individuellen Wurzeln zu suchen, sondern neue, kollektive Wurzeln zu erschaffen. Meine eigene Musik ist davon sehr weit entfernt. Mir geht es nicht um Traditionen, ganz gleich, ob neu oder alt. Ich mache populäre Musik in dem Sinne, dass jeder, der sie sich anhört, darin seinen eigenen Song hören kann. Man braucht keine vorgefertigten Schlüssel, um eine Tür zu öffnen, die jeder mit dem ihm eigenen Schlüssel viel schneller öffnen kann.

In Berlin werden Sie an einer großen Eric Dolphy Hommage anlässlich dessen 50. Todestages teilnehmen.

LS: Ein fantastischer Musiker. Ich denke an ihn gar nicht so sehr als Klarinettist oder Flötist, sondern als Musiker, der vor allem in der Zusammenarbeit mit Mingus etwas ganz Neues in den Jazz gebracht hat. Persönlich muss ich sagen, dass ich zu keinem Zeitpunkt versucht habe, wie Eric Dolphy zu klingen. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Als ich nämlich 1972 angefangen habe, Bassklarinette zu spielen, hatte ich noch nie von Dolphy gehört. Ich kannte damals weder das Instrument noch Dolphy. Ich dachte, eine Bassklarinette ist halt, eine Klarinette, nur eine Oktave tiefer. Und weil ich mir vorgestellt habe, dass das toll klingen könnte, bin ich dann kurzerhand drei Monate in eine Fabrik arbeiten gegangen, um mir das Instrumente leisten zu können. Ich besitze es übrigens heute noch. Dann habe ich, frei von Vorbildern, auf dem Instrument einfach das gespielt, was in mir war. Verstehen Sie mich nicht falsch: Eric Dolphy ist fantastisch, aber ich kam erst so spät mit ihm in Berührung, dass er mich gar nicht mehr wirklich beeinflussen konnte.

Was bedeutet Ihnen eigentlich die Klarinette als Instrument?

LS: Farben. Vor allem Farben. Schöne Klangfarben zu finden und sie zu mischen wie ein Maler, das ist es, was mich interessiert. Die Klarinette ist ja kein so starkes Instrument mit einer so mächtigen Geschichte wie z. B. das Klavier oder das Saxofon oder die Trompete. Das bringt eine größere Freiheit mit sich. Das Instrument ist sehr flexibel und verfügt über unendlich viele Charaktere. Und genau das ist, was ich immer wollte. Natürlich würde ich manchmal auch gerne ein anderes Instrument spielen, vor allem dann, wenn ich etwas für die Band komponiere und die Klarinette einfach nicht dazu passt. Dann spiele ich eben mal nicht mit. Grundsätzlich habe ich aber eine gute Balance gefunden zwischen Spielen und Komponieren.Ich bin nämlich kein konzeptioneller Komponist. Ich bin komponierender Klarinettist. Ich muss spielen. Ich könnte nie nur Komponist sein. Ich muss einfach in das Instrument blasen und meine Finger bewegen können. Dieser physische Vorgang ist für mich unheimlich wichtig. Obwohl ich ihn manchmal auch verfluche. Ich spiele jetzt über 50 Jahre Klarinette und fühle mich trotzdem jedes Mal beim Üben wieder wie ein Anfänger, wenn ich Skalen spiele und der Mund oder die Finger nicht sofort richtig wollen. Es ist ein Gefängnis. Aber ein selbst gewähltes. Weil ich nur so die Verbindung zur Musik wirklich spüren kann. Das ist nicht nur ein spirituelles Phänomen. Es ist auch ein körperliches Verhältnis, das man eingeht, und manchmal auch ein Kampf.

Ein im besten Falle stilbildender Kampf. 

LS: Ja, in der Tat. Für mich ist der persönliche Stil die perfekte Kombination aus Spiritualität, Körperlichkeit und Vorstellungskraft bzw. dem Willen, etwas Eigenes zu erschaffen. Und das Seltsame daran ist, dass man das Gelingen nicht gezielt herbeiführen kann, sondern es sich schrittweise ergibt. Das Publikum erkennt diesen Stil oftmals lange, bevor man ihn an sich selbst erkennt.