Gary Peacock ist ein kaum zu überschätzender Fixpunkt der Jazzgeschichte der letzten 60 Jahre. Seine Karriere begann er Mitte der 1950er-Jahre in Deutschland, wo er während seiner Zeit in der Army im Großraum Frankfurt u.a. mit Hans Koller, Albert Mangelsdorff und Attila Zoller auftrat – damals übrigens noch als Pianist. Zurück in den USA hat er mit Stilbildnern und Innovatoren wie Ornette Coleman, Albert Ayler, Paul Bley und Miles Davis gespielt. Vor allem aber war bzw. ist er Mitglied der beiden vermutlich einflussreichsten Klavier-Trios des Jazz um Bill Evans bzw. Keith Jarrett – und damit ein jazzhistorisch einzigartiges Verbindungsglied. Aber auch kompositorisch hat er Beachtliches geleistet, wie auf seiner jüngsten Produktion. “Now this” nachzuhören ist. Das Album, natürlich im Klaviertrio-Format (mit Marc Copland und Joey Baron), versammelt einige exzellente neue Stücke, von denen einige durchaus Standard-Qualität besitzen. Der praktizierende Buddhist hat sich auch mit nunmehr 80 Jahren seine Neugierde bewahrt und eben erst Michael Wollny in die erlesene Reihe der von ihm begleiteten Pianisten aufgenommen, Premiere dieser Kollaboration im Duo-Format war beim letzten Enjoy Jazz Festival in Ludwigshafen. Festivalleiter Rainer Kern hat die Zusammenarbeit höchstpersönlich eingefädelt. Peacock kannte Wollny bis dahin nicht, zeigte sich aber nach dem ersten Kontakt sofort von der Idee einer Zusammenarbeit begeistert. Weil er an Wollny, dem der Zeit wohl interessantesten und am meisten holierten Jazz-Pianisten Europas, gerade die so überaus kreative Verwurzelung in der europäischen Musiktradition schätze. Beim gemeinsamen Bummel durch Heidelberg ergab sich die Gelegenheit zu einem angenehm entspannten und freigeistigen Gespräch mit dem amerikanischen Meister-Bassisten, dem es nach wie vor gelingt, jeden, mit dem er spielt, immer noch ein bisschen besser zu machen.
Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2016 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.
Ich finde, man weiß viel zu wenig über Sie als Komponist. Lassen Sie uns deshalb vielleicht mal am Beispiel von “Gaia”, dem ersten Stück ihrer aktuellen CD “Now This”, darüber sprechen, wie eine solche wundersam schlichte und doch universelle Melodie überhaupt entsteht.
GP: Auch wenn ich versuche, die Entwicklungsstufen meiner Kompositionen nachzuvollziehen, es ist mir unmöglich, ein Initial zu benennen. Ich sitze meistens am Klavier und spiele. Und dann ist es die Musik selbst, die mich plötzlich antwortet. Ich höre plötzlich etwas, das mich innehalten lässt. Dann breche ich das Spielen sofort ab. Damit mir das Motiv nicht entgleitet, seine Farbe wechselt, sich im Einklang mit der Zeit ganz natürlich weiterentwickelt. Das ist wirklich ein physischer Prozess: Ich höre auf zu spielen, stehe auf und bewege mich vom Klavier weg. Ich muss das tun, weil mir sonst der innere Klang verlorenginge. Ich brauche einfach diese Ruhe, um mich zu fragen: Was mache ich mit dieser Idee? Was liegt in ihr verborgen? Warum hat sie mich spontan ergriffen? Wo ist ihr Zauber?
Heißt das, Sie gehen vom Hören ins Denken über?
GP: Im Gegenteil. Ich denke nicht. Ich höre. Ausschließlich. In diesem Fall nach innen.
Viele Künstler haben Schwierigkeiten damit, in ihrer Arbeit das richtige Ende zu finden. Woher wissen Sie, dass ein Stück fertig ist?
GP: Die Musik selbst sagt es einem. Das gilt natürlich auch für die Bühne. Man muss einfach nur hinhören. Ein Kritiker hat Ornette Coleman mal Folgendes gefragt: “Ornette, Sie spielen diese völlig improvisierte Musik, ohne erkennbares Gerüst, keine klassischen 32 Takte, nicht, keine Form, an der Sie und die anderen Musiker sich verlässlich orientieren könnten. Woher wissen Sie, wann ein Stück zu Ende ist?” Darauf sagte Ornette: “Weil es vorbei ist.” Großartig, nicht wahr? Das ist bei gänzlich oder weitgehend freier Musik natürlich immer eine spannende Frage. Woher weiß ich, dass etwas vorbei ist? Die Antwort lautet: Man kann es nicht wissen. Man kann es nur hören. Und genau so ergeht es mir auch beim Komponieren. Der richtige Zeitpunkt aufzuhören muss nicht gefunden werden. Er ist da.
Man erkennt ihn nur nicht immer.
GP: Doch. Wenn Sie richtig hinhören, erkennen Sie ihn. Aber Sie haben vorher über “Gaia” gesprochen. Die Melodie ist ja doch sehr simpel und repetitiv.
Es ist, wie so oft. Der eigentliche Zauber liegt dahinter.
GP: Exakt! Wir hören ihn, aber wir verstehen ihn nicht. Wir können ihn nicht präzisieren bzw. in Worte fassen.
Erinnern Sie sich daran, was diese Melodie in ihnen ausgelöst hat?
GP: Selbstverständlich. Aber ich kann es nicht formulieren. Ein musikalisches Gefühl, und das ist ja das Große daran. Kann nicht auf die Ebene unserer sonstigen Gefühle reduziert werden: Liebe, Hast, Angst, Eifersucht etc. Über die Begrifflichkeit versuchen wir etwas zu konkretisieren, was dadurch in vielen Lebensbereichen oftmals tatsächlich eine sinnvolle Konkretisierung erfährt. In der Musik ist das nicht möglich. Ich bin durchaus schon gefragt worden, ob ich nicht auch hören würde, dass diese oder jene Melodie unmittelbar Liebe ausdrückt. Meine Antwort darauf ist: nein. Das ist nicht ihr Wesen. Musik kann dazu benutzt werden, natürlich. Denken Sie nur an Filmmusik. Das ist dann im Grunde Programmmusik. Die Musik illustriert oder beschreibt hier etwas. Aber das ist nicht meine musikalische Welt.
Musik soll nicht beschreiben, sondern sein?
GP: Ganz genau. Darin liegt ihre Qualität. – Wissen Sie, was ich glaube? Es gibt in der Musik überhaupt nur zwei Kategorien: Weite und Tiefe. Die Weite ist all das, was wir lernen können, was wir vermitteln können, was wir analysieren und verstehen können. All das Zeug, das einem an den Hochschulen beigebracht wird. All das ist Weite. Tiefe können Sie nicht lernen. Aber in der Tiefe liegt das Eigentliche. Wenn Musiker miteinander spielen, bewegen sich beide Aspekte immer auf der Zeitachse mit. Auf beiden Ebenen wird permanent kommuniziert. Gemeinsam jederzeit einen Standard spielen zu können, das ist Weite. Das können wir lernen, abstimmen und organisieren. Aber die Tiefe? Nein. Nicht lehrbar. Nicht lernbar. Aber hörbar. Musik heißt hören. Sie ist nicht wirklich eine Frage der Technik. Ich habe mal mit Miles Davis gespielt, u.a. “I fall in love too easily”. Wir haben es an fünf Nächten hintereinander gespielt. Er begann das Stück jedes Mal mit diesem typischen hohen Ton (singt es vor). Warum hat mich dieser Ton oder diese Phrase jedes Mal umgehauen? Und warum klang es jedes Mal so, als spielte er es zum ersten Mal? Wie ist so etwas möglich? Man macht dieselbe Sache immer wieder und sie ist immer wieder neu? Wie bringt man sich an diesem Punkt? Wo muss man sich innerlich befinden, um so etwas hinzukriegen?
Ich warte gespannt auf ihre Antwort.
GP: Auch. Aber weil man so etwas nicht lernen kann, kann ich die Frage auch nicht beantworten. Zumindest nicht so, wie wir sie gerne beantwortet hätten. Man ist in diesem Moment einfach nichts anderes als dieser eine Klang. Das ganze Sein ist dieser eine Klang, der wie der Anfang und das Ende von allem ist. Oder nehmen Sie ein Stück wie “All the things you are”. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Standard gespielt habe. 2000 Mal? Bestimmt. Zuerst lernt man das Stück, beschäftigt sich mit den Akkordfolgen und so weiter. Wenn man damit vertraut ist, fängt man an, darüber zu improvisieren und die Möglichkeiten zu erkunden. Und wenn es einen irgendwann langweilt, dann deshalb, weil man es beim tausendsten Mal tatsächlich zum tausendsten Mal spielt – und eben nicht, wie ich es am Beispiel von Miles zu zeigen versucht habe, es auch beim tausendsten Mal zum ersten Mal spielt. Und wenn ein Stück dich langweilt, dann langweilst du es auch. Ich frage mich dann immer: “Okay, wenn dich das Stück nicht gelangweilt hat, als du es zum ersten Mal gespielt zurückfinden und hast, dann musst du dorthin noch mal an den Ort der Faszination anfangen. Gehe zurück. Suche nach der Verbindung zu deinen Gefühlen.” Dieses erste Mal kann es dann immer wieder geben, nur eben jedes Mal anders.
Das alles berührt indirekt ja auch die große Frage nach dem eigenen Sound, der eigenen Persönlichkeit im Spiel, und wie man beides findet?
GP: Hm. Wissen Sie, ich glaube, dass es wahrscheinlich ein Fehler ist nach diesem “eigenen Sound” überhaupt zu suchen. Wer nach diesem Sound sucht, der wird ihn irgendwann konstruieren. Das halte ich für unnatürlich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alles viel einfacher ist, als wir meinen: Wer wahrhaft hört, zuhört, ohne dabei zu denken, wer also frei im Hören ist, der wird seinen Sound ganz automatisch finden bzw. gefunden werden. Ich versuche es mal anders zu formulieren: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen bestimmten Sound. Er ist nahe an dem. Was Sie sich vorstellen, trifft es aber noch nicht zur Gänze. Er erfüllt Sie nicht, er komplettiert Sie nicht. Dann hören Sie einfach weiter hin. Verlassen Sie diesen Weg nicht. Leben Sie ihr Leben. Navigieren Sie einfach weiter. Aber denken Sie um Himmels willen nicht darüber nach. Sie werden dann zwangsläufig auf diesen Sound treffen. Kurioserweise habe ich mal mit Miles über genau dieses Thema gesprochen und ihn gefragt, was ich tun solle. Ich fühlte mich unwohl mit meinem Sound und dachte, ich käme nicht weiter. Da fragte mich Miles, wie lange ich schon daran arbeitete? Ich sagte, vielleicht fünfzehn Jahre. Da winkte er ab und sagte sinngemäß: “Ach, das ist doch gar nichts. Mach dir keine Gedanken.” Das ist reine Weisheit. Was er meinte, ist: Suche nicht. Lass deinen Sound dich finden. Und du wirst es fühlen, wenn er dich gefunden hat. Wichtig allerdings ist zu erkennen, dass da immer ein Sound ist und man sich fragt, ob das genau der Sound ist, den man möchte und in dem man sich aufgehoben fühlt, also sich zu fragen: ist das mein Sound? Denn alles geschieht über das Hören. Hören ist Tiefe.
In ihrem Fall ist es nicht nur der Sound, sondern vor allem die Positionierung in der Interaktion. Ihr Bassspiel ist sehr mittig positioniert und fließt von dort unentwegt, mal um zu öffnen, mal um zusammenzuführen.
GP: Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich als Bassist mich nie als Solist verstanden habe. Das ist nicht meine Idee vom Spiel. Ich habe mir immer die Frage gestellt, was ich tun kann, damit der Solist, ob Pianist oder Bläser. Nach seinem Solo das Gefühl hat, gerade das beste Solo aller Zeiten gespielt zu haben. Das ist mein Job. Es geht nicht darum, den anderen zu zeigen, was ich alles auf dem Instrument anstellen kann. Mein Job ist es, etwas anderes dazu zu bringen, hervorzutreten. Es ist durchaus eine dienende Rolle. Wenn ich also auf der Bühne einem anderen Musiker zuhöre, dann frage ich mich nicht. Was könnte ich jetzt dazu spielen? Ich frage mich: Was will der andere gerade von mir hören? Was braucht er? Ich gebe Orientierung.
Aber dadurch beeinflussen Sie, um bei ihrem Beispiel zu bleiben, das Solo eines anderen nicht nur Sie sind, davon.
GP: Ja.
Das ist nicht dienend, das ist ermöglichend.
GP: Ja, auch das. Aber die Orientierung, die ich gebe, kommt ausschließlich aus dem Hören. Und meine Antwort auf das Gehörte wähle ich, sodass der in Gang gesetzte Prozess möglichst spannend weiterläuft.
Geht es dabei nur ums Zuhören oder auch ums ln-die-Zukunft-hören, also um Imagination?
GP: Wenn Sie wirklich zuhören, dann denken Sie nicht. Und ich höre zu. Wenn Sie zuhören, ist das wie ein “Ja”, wenn Sie denken, ist das ein “Ja. Aber …” oder ein “Ja, und …”. Bei mir ist es immer ein reines und begeistertes “ja”.
Womit wir wieder beim Thema Ausbildung wären. Hier wird natürlich vor allem gedacht. …
GP: … und damit alles Wesentliche verpasst.
Sie haben ja nicht nur Musik, sondern später auch noch Biologie studiert. Hat Sie das in der Musik bzw. in ihrem Verständnis von Musik weitergebracht?
GP: Ja. – Aber man muss aufpassen, dass man bei solchen Verknüpfungen nicht zu weit geht. Die Musik ist keine Wissenschaft. Sie vollzieht sich nicht im Denken. Das ist generell das Problem von akademischer Bildung: An der Hochschule wird dir vor allem beigebracht, zu denken. Weil, ich wiederhole mich, nur Weite vermittelbar ist. Tiefe nicht.
Tiefe ist sicher auch ein großes Thema im Trio mit Keith Jarrett und Jack DeJohnette. Hat die ganz besondere Chemie in diesem Trio auch etwas damit zu tun, dass Sie alle von Hause aus Pianisten sind?
GP: Ganz sicher. Aber auch damit, dass wir generell nicht nur auf unser Instrument festgelegt sind. Keith zum Beispiel spielte lange Klavier und Violine – beides so gut, dass die Entscheidung, auf welches Instrument er sich konzentrieren soll, sehr schwerfiel. Außerdem spielt er wirklich gut Trompete, Saxofon, Gitarre und Schlagzeug. Jack spielt nicht nur Schlagzeug und Klavier, auch Saxofon. Wir können uns also alle sehr gut in unterschiedliche Positionen im Trio versetzen. Diese Einflüsse, die jeder von uns einbringt, führen zu einer Balance, die weit über die Balance der Instrumente hinausgeht. Dadurch spüren wir einfach sehr genau, was unsere Musik erreichen kann, was sie will, wohin sie sich entwickeln kann. Das Wichtigste aber ist, dass wir alle ein Verständnis von Musik haben, indem es nicht darum geht irgendetwas beweisen zu wollen. Nicht im Geringsten. Wir können der Musik einfach freien Lauf lassen.
Datum: 14. Dezember 2023