Schule des Hörens – Joe Lovano

Musik kann ganz schnell sehr nebensächlich werden. Als Joe Lovano im Rahmen des Enjoy Jazz Festivals sein neues Projekt mit Dave Douglas als Co-Leader vorstellte, war in der Nacht zuvor ein Hurricane über die Ostküste der USA, wo Lovano lebt, gefegt und hat verheerende Schäden angerichtet. Kurz vor unserem Gespräch konnte der Saxophonist glücklicherweise mit seiner Frau telefonieren und erfuhr, dass sie das ländliche Anwesen verlassen und sich bei Freunden in Sicherheit gebracht hatte. So war das Gespräch wie das Konzert geprägt von großer Erleichterung, auch wenn das Ausmaß der materiellen Schäden an Hab und Gut noch unbekannt war.

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2013 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

Mr. Lovano, ich habe einen Neffen, der in der Schulband Saxophon spielt. Was würden Sie sagen, ist das Wichtigste, das ein junger Musiker auf seinem Weg lernen sollte?

JL: Er sollte lernen, in der Welt der Musik zu leben, sich inspirieren zu lassen vom unfassbaren Fundus an Möglichkeiten – klanglich, technisch und geistig -, die das Instrument bietet und die durch die großen Meister des Instruments ans Licht gebracht wurden, insbesondere im Jazz. Er sollte versuchen zu begreifen, wie viel Liebe und Leidenschaft in der Musik und jedem einzelnen Musiker steckt. Dabei geht es ja nicht primär um die Technik, sondern zunächst um den spirituellen Zugang. Es spielen letztlich viele Faktoren zusammen, aber einer ist für mich zentral: Die Liebe zu spüren, die in der Musik liegt, der man lauscht. Nur wenn du dein Ohr entwickelst, kannst du auch deinen Sound entwickeln. Das bringt dich weiter. Das gibt dir eine Vorstellung von dem, was möglich ist und was dir möglich ist. Mein Tipp wäre also: Fly like a bird. 

Das klingt jetzt aber nicht nach einem Tipp für Anfänger, sondern nach einer Lebensaufgabe.

JL: Natürlich. Weil dann, wenn Musik zu einer Leidenschaft wird – zu einer Lebens-Leidenschaft -, sie dich bewegt und antreibt. Unablässig. Sie bringt dein Leben in eine kreative Balance, in einen Kreislauf aus Inspiration und Re-Inspiration. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich im Alter ihres Neffen war. Auch ich spielte in der Schulband auf der Elementary School. Mein Vater spielte selbst Saxophon und ich hörte ihm sehr oft einfach nur zu. Die Schwingungen, die von seinem Sound ausgingen, haben mich total gefesselt. 

Haben Sie diesen Sound noch im Ohr?

JL: Aber klar doch. Mein Dad hatte einen großartigen Sound. Der Sound ist ja nicht der Ton, sondern die Art, wie man ihn spielt. Wenn man sich Leute wie Wayne Shorter, Joe Henderson, Sonny Rollins, Charlie Parker oder Ornette Coleman anhört, dann hört man eine Gesamtheit von Eindrücken. Darin spiegelt sich, wer und wie du bist, wie du die Dinge um dich herum wahrnimmst und einordnest, wie du Töne hörst, wie du atmest, wie du unterschiedliche Ideen im Spielen verbindest. 

Wie vermittelt man so etwas?

JL: Das ist eine sehr mysteriöse Angelegenheit. Ich habe das selbst übrigens erst dadurch wirklich begriffen, dass ich mir viele Pianisten angehört habe. Sie sitzen am selben Klavier und klingen doch alle komplett unterschiedlich. Würde sich Herbie Hancock an dieses Klavier da oben auf der Bühne setzen, es würde vom ersten Ton an nach Herbie Hancock klingen. Dasselbe gilt für Brad Mehldau oder Thelonious Monk oder Chick Corea. Und dann kannst du Hunderte anderer Pianisten an den Flügel setzen und alle klingen wie dieser Flügel. Es ist dein besonderes Feeling, es ist deine Art, in die Musik hineinzuatmen, die den unverkennbaren Sound macht – oder eben nicht. Und seitdem ich diese Zusammenhänge am Klavier erkannt habe, kann ich sie auf jedem Instrument hören. Das zu verstehen, halte ich für sehr wichtig, um sich weiterentwickeln zu können.

Ihr Vater war zugleich Ihr erster Lehrer Macht das alles einfacher oder schwieriger?

JL: Ich würde sagen, das hängt doch sehr von der Beziehung ab, in der man zu seinem Vater steht. In meinem Fall war diese Beziehung fantastisch. Er war einfach ein cooler Typ, der Charlie Parker live gehört hat oder Lester Young, der in vielen Bands gespielt hat, zum Beispiel mit Tadd Dameron. Oder um 1950, da kam John Coltrane, damals noch mit einer Bluesband und am Altsaxophon, in die Stadt, und mein Vater hat mit ihm eine Jam Session gespielt. Coltrane wurde damit irgendwie auch zu einem Teil der Geschichte meines Vaters. Es war eine Zeit, die man als Schule des Spielens bezeichnen könnte. Alles war so einfach und so selbstverständlich: Die besten Musiker kamen in die Stadt und spielten, häufig mit Musikern aus der Region. Alles war sehr nah und sehr direkt. So waren all diese großen Musiker, die ich damals erlebt habe, nicht einfach nur Legenden, sondern sehr real. Mein 

Vater nahm mich zum Beispiel mit in die Garderobe zu Gene Ammons und vielen anderen und ich konnte schon als Kind mit all diesen Leuten sprechen. Ich bin in Cleveland, Ohio, aufgewachsen. In einem multikulturell geprägten Umfeld. Mein Vater war zwar mein erster Lehrer. Aber ich bin als Teenager zu allen möglichen Proben gegangen und habe mir die Besten angehört, nicht nur Saxophonisten, habe versucht zu verstehen, was sie wie spielen, habe mich im Hören in ihren Sound fallen lassen, habe mir die Stücke draufgeschafft und mich durch Nachahmung inspirieren lassen. Das war alles sehr unkompliziert und so wurden letztlich all diese fantastischen Musiker dieser Generation, die ich hören und sprechen durfte, zu so etwas wie Lehrern. 

Könnte daher der Eindruck kommen, dass Ihr eigener Stil auf nicht innen gewirkt hat wie die Summe aller Stile aus der Sicht von oder gefiltert durch Joe Lovano.  

JL: Dankeschön. Das Wichtigste ist: Du musst deine eigene Geschichte erzählen. Je mehr Geschichten anderer ich zugehört, desto klarer wurde mir, dass ich deren Geschichten gar nicht erzählen kann. Ich bin mit unendlich vielen unterschiedlichen Musikern aufgewachsen und habe mich von der Liebe und der Leidenschaft ihrer Geschichten anstecken lassen, habe die unterschiedlichsten Stile und Kategorien kennengelernt und studiert.

Ihr schon immer sehr hoch entwickelter Sound ist für mich in den letzten Jahren noch klarer und destillierter geworden, ohne seine typische Kraft zu verlieren. 

JL: Dahinter steckt eine sehr schöne Erfahrung. Je mehr man spielt, desto deutlicher wird die Idee vom eigenen Spiel. Das, was entwickelt sich immer mehr hin zum Wie. Und aus dieser Entwicklung heraus öffnen sich mehr und mehr Räume, nicht nur für das eigene Spiel, auch für das Interplay. Es ist ganz einfach ein Prozess zunehmender Klarheit.