Avantgarde als Praxis und Haltung – Peter Brötzmann

Am 22. Juni 2023 verstarb der große Peter Brötzmann, einer jener handverlesenen deutschen Jazz-Musiker, die global, also auch im Mutterland des Jazz, einen klangvollen Namen hatten. Seine Arbeit ist ein im besten Sinne unvollendbares künstlerisches Mosaik. Er hat mit Traditionen nicht nur gebrochen, er hat sie förmlich körperlich aufgebrochen, neue Stücke nicht selten brachial eingefügt und dabei immer wieder Neues, so noch nicht Gehörtes geschaffen. So auch mehrfach bei Enjoy Jazz.

Peter Brötzmann, der im letzten Jahr 75 geworden ist, gilt als einer der einflussreichsten Vertreter des europäischen Free Jazz – und als einer der ganz wenigen, die auch in Amerika erfolgreich waren und bis heute sind. Folgerichtig erhielt er auf dem New Yorker „Vision  Festival“, einem der wichtigsten Avantgarde-Festivals der USA, vor wenigen Jahren einen Preis für sein Lebenswerk. Außerdem dürfte Brötzmann wohl der einzige deutsche Jazzmusiker mit eigenem Verb sein: “brötzen” gilt bekanntlich, vor allem in Jazzkreisen als feste Umschreibung für eine freie, kantige und hochenergetische Spielweise. Was nicht bedeutet, dass dieser Sound so etwas wie ein reines Naturereignis wäre bzw. dass Brötzmann nicht akribisch an und mit ihm arbeiten würde. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bot der Soundcheck zu seinem Duo-Konzert mit Heather Leigh im Rahmen des Enjoy Jazz Festivals 2016 in Heidelberg. Über eine Stunde rang er immer wieder mit der Tontechnik um die Feinheiten seines Saxophon-Sounds, überaus freundlich und sehr jovial, aber in der Sache unnachgiebig. Er hatte das Gefühl, der Bühnen-Klang sei zu eng, sodass ihm der Weg zu seinem eigenen Ton irgendwie versperrt war, wie er ihn am Ende wieder begehbar machte, war ein Musterbeispiel musikalischer als außermusikalischer Kommunikation, das aufgezeichnet und an Hochschulen gelehrt gehörte. Ein überaus beeindruckender Akt reine; unverstellter Musikalität, dem beizuwohnen faszinierend und ein Privileg war. 

Nachdem er sich ausgiebig der Kamera des Fotografen Manfred Rinderspacher den man fast schon zu seinen Weggefährten zählen muss, gestellt hat, nahm sich der Saxophonist, der auch als Bildender und Objekt-Künstler mit zahlreichen eigenen Ausstellungen erfolgreich ist, die Zeit für ein für seine eher aufgewühlten Verhältnisse geradezu tiefenentspanntes Gespräch.

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2017 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

Seit der Revolution, der mit ihnen und Peter Kowald verbundenen “Wuppertaler Schule” oder dem Kreis um Alexander von Schlippenbach vor über 50 Jahren hat es im deutschen Jazz keinen maßgeblichen Aufbruch mehr gegeben.

PB: Richtig. Das ist einfach so. Und ich finde es furchtbar. Es gibt sicherlich den einen oder anderen neuen guten Spieler. Ansonsten gibt es wenig Neues, aber viel ordentlich Angepasstes. Ich empfinde heute sowieso vieles als sehr blasiert. Übrigens, nicht nur in Deutschland. Und weil Sie von unserem Aufbruch damals gesprochen haben; es sind ja nicht mehr viele übrig von uns, Alex ist fast der Einzige, wenn man uns aber immer noch und vielleicht sogar zu Recht als Avantgarde bezeichnet, ich weiß nicht … das wirft kein gutes Licht auf den Jazz von heute, aber es gibt ja auch kein solidarisches Bewusstsein mehr. Dieses Bewusstsein hat uns damals ausgemacht. Es war unser Ausgangspunkt.

Wir können jetzt damit hadern, dass sich die Zeiten nun mal verändern – und selten zum Besseren. Aber natürlich hat der aktuelle Stillstand auch etwas damit zu tun, dass die politische Situation heute sehr viel konfuser ist und durch die Digitalisierung der Eindruck erweckt wird, dass man sowieso alles weiß, was man wissen muss und wissen will. Es hat den Anschein, als sei das an die Stelle des eigenen authentischen Ausprobierens getreten. Das ist natürlich ein großer Blödsinn. Denn gerade, wenn es um Kunst geht und insbesondere um Musik, die ja von Menschen für Menschen gemacht wird, darf man sich nicht einbilden, sie sei eine Frage objektiver Informationen. 

Zumal der im weitesten Sinne soziale Aspekt ja geradezu konstitutiv für den Jazz ist.

PB: … und immer gewesen ist. Den sollte man auch nie vernachlässigen. In all meinen Lectures empfehle ich daher, immer auch zurück zu den Anfängen zu blicken, Jazz ist eine soziale Musik, eine Frage der Gemeinschaft. 

Der Free Jazz führt den Schlüsselbegriff der Freiheit ja schon im Begriff. Ist es bezeichnend, dass die Akzeptanz dafür gerade in Deutschland viel länger gedauert hat als beispielsweise in Amerika? 

PB: Die Amerikaner haben einfach eine viel relaxtere Einstellung zur Musik. Die Jazzgeschichte ist für mich auch gar keine Geschichte der Stile, sondern der Persönlichkeiten. Aber es stimmt schon, dass ich in Amerika auf viel offenere Ohren gestoßen bin als hier. In Deutschland wird alles gerne in Schubladen gepackt und es wird sehr schnell und rigoros geurteilt oder festgelegt, dass dieses oder jenes gar keine Musik mehr ist. Das Herz für eine Musik, wie ich sie machte, war hierzulande sehr eng. Und daran hat sich bis heute auch nur wenig geändert.

Sind Sie nie verzweifelt an dem Paradox, die freieste denkbare Musik zu machen und zugleich die Erfahrung, dass sich viele Zuhörer durch diese Freiheit regelrecht bedroht fühlten?

PB: Natürlich. Es gab ja auch durchaus physische Angriffe mit Bierkelchen und anderen Gegenständen. Da war im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los. Apropos Teufel: Bei unserem ersten Konzert in der FU in Berlin saßen alle damaligen Protagonisten [Anm.: Der APO] in der ersten Reihe, die Kunzelmanns und wie sie alle hießen. Es gab einen Riesenaufstand. Die Führungsleute der Studentenbewegung reagierten nämlich gottverdammt bürgerlich-auf unsere Musik. Sie bemühten sich noch nicht mal um ein Verständnis. Auch für sie zählte nur, was auf ihrer engen Schiene funktionierte. Wahrscheinlich sind sie nach dem Konzert nach Hause gegangen und haben erst mal Joan Baez aufgelegt. Das war vermutlich das Äußerste, was noch in ihren Kleinhirnen Platz fand. Aus solchen Erfahrungen darf man sich einfach nichts machen. Man muss das hinnehmen. Bis heute. Man kann nur eines tun; weiterarbeiten. Und eigentlich kann ich mich ja auch nicht beklagen. Obwohl es: manchmal schon kurios ist. 

Was meinen Sie?

PB: Haben Sie gehört, dass man an der Hochschule in Köln ein Fach Free Jazz eingerichtet hat? 

Nein, das ist mir neu. Das Anti-Akademische zu akademisieren – klingt irgendwie nach einem tragikomischen Paradox.

PB: Da kann man sich nur an den Kopf fassen. Wirklich: Was ist denn das für ein Widersinn, für eine Perversität?

Apropos Gegenbewegungen: Es gibt Arbeiten von ihnen, zum Beispiel die mit Heather Leigh, in denen erkenne ich eine geradezu betörende Schönheit.

PB: Na ja, Kunst ist ja auch in erster Linie eine Frage von Schönheit. Die Frage ist nur, was der Einzelne darunter versteht. 

Aber Schönheit repräsentiert doch immer ein bestimmtes Wertesystem. Sind Sie nicht eigentlich angetreten, um genau gegen derartige Wertesysteme anzuspielen?

PB: Das ist Teil des Spiels. Wenn man etwas Neues beginnt, muss das Alte erst mal auf den Abfallhaufen. Das heißt aber nicht, dass wir dann denselben ldealen auf neue Weise nachstreben. Es.geht natürlich trotzdem immer irgendwo um Schönheit. Aber wir wollten vor allem Diskrepanzen, Entzerrung, die Etablierung des Gegenpoligen erzeugen und dadurch zeigen, dass auch daraus eine allerdings ganz anders definierte Schönheit entstehen kann. Das finden Sie ja auch bei Mauricio Kagel oder bei Stockhausen, mit denen ich damals einiges zu tun hatte. Wir waren uns darin einig, dass das, was uns als Schönheit verkauft wird, nach einem solchen Krieg, also nach dem Zweiten Weltkrieg, nichts mehr gelten kann. Wir mussten von vorne anfangen. Dazu gehörte auch, sich von Tradiertem zu verabschieden. Obwohl ich immer ein Fan des alten Jazz war. Coleman Hawkins ist für mich bis heute ein ganz Großer oder auch Art Blakey, der damals viel in Europa unterwegs war, John Coltrane, Sonny Rollins, Don Cherry.

Selbst, wenn Sie die großen europäischen Rockbands fragen, wird man ihnen erzählen, dass es fast unmöglich ist, als Europäer in den USA erfolgreich zu sein. Das Land sei einfach zu groß und erfordere eine nahezu lückenlose Präsenz. Sie haben es über Jahrzehnte hinweg geschafft, in Amerika erfolgreich zu sein. 

PB: Ich habe auch kontinuierlich daran gearbeitet. Ich spiele jedes Jahr mindestens eine US-Tour und zusätzlich verschiedene Einzel-Konzerte. Außerdem hatte ich das Glück, dass es Typen wie mich oder auch Peter Kowald sonst nicht gab. Leute, die sich nicht von der Allgewalt der amerikanischen Spielart haben einschüchtern lassen, sondern einfach ihr Ding gemacht haben. Das war der einzige Weg, akzeptiert zu werden. Und er hat funktioniert. Seitdem habe ich wirklich von Neu-Mexiko bis rauf nach Kanada ein richtig gutes Publikum. Bisher hat sich jedenfalls noch kein Veranstalter beklagt. 

Sie sind das, was man eine künstlerische Doppelbegabung nennt. Mit der bildenden Kunst arbeiten Sie auf etwas Statisches, auf ein Endprodukt hin, wohingegen die Musik, zumindest wenn man sie primär als Live-Kunst betrachtet, flüchtig ist und sich in der Zeit vollzieht. Zwei sehr unterschiedliche Künste und Vorgehensweisen. 

PB: Absolut richtig. Außerdem wird Musik zu mehreren gemacht und die bildende Kunst mache ich alleine – Gott sei Dank! Der Prozess macht den Unterschied. Wenn ich in meinem Studioatelier in Wuppertal bin und arbeite, dann bin ich wirklich alleine. Ich kann ungestört und ganz für mich Dinge ausprobieren oder einfach ein Objekt in den Ofen schieben und schauen, wie es herauskommt. Im Moment sind es eher kleine Arbeiten, die dort entstehen. Für größere fehlt mir leider die Zeit – oder glücklicherweise. Denn für mein Wohlbefinden ist es äußerst wichtig, unterwegs zu sein, mit den Leuten, die ich mag und die ich mir meistens sehr bewusst aussuche. Allerdings merke ich, dass es mir mit zunehmendem Alter wichtiger geworden ist, auch wieder etwas Zeit für mich zu haben, um mal einfach nichts zu tun oder nachzudenken oder ein bisschen was mit Tusche zu Papier zu bringen. 

Fehlt Ihnen, wenn Sie heute auf die Wett schauen, die Kunst als Gegenbewegung?

PB: Ich beschäftige mich mit dieser Frage eigentlich sehr wenig. Aber wenn Sie mein genereller Eindruck interessiert: Ich denke, dass sich die Kunst ganz allgemein immer mehr in die Rolle eines ziemlich leichten Entertainments hinein entwickelt hat. Und das ist genau das, was wir nicht brauchen.