Shabaka Hutchings – “Der Groove Teil eines sehr präzise konzipierten Gesamtklangbildes”

Sabaka Hutchings ist ein tiefenentspannter Workaholic. Längst hat er sich zu einem internationalen Festival-Liebling hochgespielt. Enjoy Jazz präsentierte den Engländer mit karibischen Wurzeln über mehrere Jahre hinweg mit all seinen aktiven Formationen in einer Art offener Werkschau. Mit Sons Of Kemet beispielsweise gastierte er, nur auf den ersten Blick befremdend, im wohlfeil-gediegenen Konzertambiente des BASF-Gesellschaftshauses in Ludwigshafen, vor einem Publikum, das, eher dem Veranstaltungsort als der Band gemäß, U50 war – und löste ungeahnte Begeisterungsstürme aus. Denn wer diese Band hört, mit zwei kantigen Rockschlagzeugern, mit in Zirkularatmung in den Raum gedonnertem Tuba-Tiefton-Feuerwerk und mit einem in seiner Freigeistigkeit an Sonny Rollins erinnernden Saxophon von großer, fast spiritueller Kraft und rhythmischer Versiertheit, der spürt, dass hier zwischen hochenergetischem Modern Jazz, stoischem Rock und karibischen Arabesken nicht weniger verhandelt wird als eine mögliche Zukunft des Jazz. 

Hier geht das Alte bruchlos im Neuen auf. Diese Musik ist hochkomplex und zu keiner Zeit anbiedernd, aber sie reicht dem jungen Publikum ganz selbstverständlich die Hand, indem es rhythmisch und gestisch seine Sprache spricht, um es dann mit einer ihm nicht selten völlig neuen musikalischen Grammatik zu konfrontieren.

Hutchings, übrigens ein exzellenter klassischer Klarinettist, hat sich längst auch als Auftragskomponist (u.a. für das Ligeti String Quartet und für London Sinfonietta) einen Namen gemacht. Über Soweto Kinch, Steve Beresford und Courtney Pine kam er noch während des Studiums zur improvisierten Musik und schließlich zum Jazz, als Gastmusiker arbeitete er u.a. mit Charlie Haden’s Liberation Music Orchestra. Neben seiner eigenen Band Sons of Kemet ist er festes Mitglied in den kaum weniger erfolgreichen Formationen The Comet is Coming, Melt Yourself Down sowie Shabaka & The Ancestors. Er hilft aber auch schon mal bei der Kult-Band Polar Bear aus, mit der sich Sons of Kemet den Schlagzeuger und die Gedanken zur musikalischen Vermarktbarkeit teilt.

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2017 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

Der britische Jazz hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erfahren und ist heute so lebendig und vielfältig wie nie zuvor. Vor allem in Verbindung mit tanzbaren Grooves wurden hier zuletzt Maßstäbe gesetzt.

SH: Für mich hat das eigentlich nichts Außergewöhnliches. Was seit einigen Jahren speziell in London passiert, ist, dass es eine starke Verbindung unserer Musik vor allem zum jüngeren Publikum gibt. Da ist in den Clubs etwas gewachsen. Die Musik hat sich im Einklang mit dem jungen Publikum und seiner Lebenswirklichkeit, mit den unterschiedlichen Formen seiner Existenz, auf irgendwie sehr natürliche Weise mitentwickelt. Man kann das kaum anders beschreiben, als dass diese Musik nicht nur in den Köpfen der Musiker existiert, sondern sich echte, tragfähige Verbindungen gesucht und neue Bezüge nach außen geschaffen hat.

Und diese Verbindungen werden immer vielfältiger.

SH: Ja, absolut. Obwohl ich mir gerade die Frage stelle, was Sie vorhin mir tanzbaren Grooves meinten? Für mich ist es nämlich gar nicht so wichtig, ob eine Musik diese Art von Groove hat oder nicht. Für mich geht es eher um die Frage: Was geschieht in dem Raum, den dieser Groove schafft? Natürlich verfügt unsere Musik über dieses manchmal sogar recht einfach und in gewisser Weise hypnotisch gehaltene rhythmische Element, aber es steht in einem äußerst komplexen Kontext. Das bedeutet, dass der Groove immer nur Teil eines sehr präzise konzipierten Gesamtklangbildes ist.

Aber bei aller Komplexität ist es unübersehbar, dass Sie den Jazz wieder tanzbar gemacht haben. Ihre Konzerte sind Happenings.

SH: Ja. Weil das Sinn macht. Ich spiele seit vielen Jahren improvisierte Musik und oftmals habe ich dabei die Erfahrung gemacht, dass der Jazz von vielen Zuhörern als etwas sehr Verkopftes, betont Anspruchsvolles, dabei aber auch schwer Zugängliches wahrgenommen wird. Als Kopf ohne Körper. Aber das ist meine Wahrnehmung, diese Musik ist überhaupt nicht so abstrakt, wie sie oft empfunden wird. Für mich war sie das nie. Wenn ich Ornette Colemans Musik höre, dann höre ich tatsächlich nichts Abstraktes oder gar Abweisendes. Zu keiner Zeit. Also habe ich mich gefragt: Was kann ich tun, um Zuhörer in meine Musik einzuladen, ihnen Zugang zu ermöglichen, vorbehaltlos und furchtlos.

Dabei machen sie aber erstaunlich wenig Kompromisse. Wer Sie einmal live mit ihrer Band Sons of Kemet gehört hat, der kann sich des Eindrucks kaum erwehren, in ihren manchmal über 17-minütigen Solos Verweise auf Sonny Rollins Ideal eines Stream of Consciousness zu entdecken. 

SH: Na ja, hören Sie sich diese alten Meister an – das ist doch unfassbar. Sonny Rollins ist in der Tat einer meiner Helden. Gerade die Periode unmittelbar nach ”The Bridge“ mit dem “What’s New“-Album ist doch von bis heute gültiger Relevanz. Allein, wie er diese Stücke rhythmisch gestaltet. Wie er eine körperlich spürbare Verbindung zwischen dem Rhythmus und seinem Saxophon herstellt, das ist von universeller Gültigkeit. James Brown zum Beispiel konnte diese Verbindung ebenfalls auf meisterliche Weise aufbauen.

In dieser Tradition sehen Sie Ihre Musik?

SH: Durchaus. Das Neue ist ja oft gar nicht so absolut neu, wie wir uns das vielleicht wünschen, sondern sollte schon auch in seinem historischen Kontext betrachtet werden.

Sie spielen aktuell fest in mindestens vier Formationen, allerdings leiten Sie davon nur eine: Sons of Kemet. Fällt es Ihnen schwer, zwischen den einzelnen Projekten zu springen?

SH: Einerseits ist es ganz leicht, weil es ja immer um dasselbe geht, nämlich darum, sein Bestes in die Musik einzubringen. Aber bei Sons of Kemet ist meine persönliche Verantwortung natürlich größer. Außerdem ist diese Musik extrem körperlich. Da gibt es durchaus Anteile, die eher nach den Gesetzen der Rockmusik funktionieren, insbesondere, was den Sound anbelangt. Aus dieser speziellen Energie entsteht immer wieder auch ein Kampf um die optimale Gestaltung der sich ergebenden Freiräume.

Sie verfügen über eine klassische Ausbildung und sind dann über das nächtliche Jammen in Clubs zum Jazz gekommen. Wie sehen Sie selbst die Entwicklung, die Sie dabei als Musiker genommen haben?

SH: Das alles ist ja nicht zufällig passiert. Ich habe zu jedem Zeitpunkt meines Lebens genau die Musik gemacht, die ich machen wollte. Ich habe es sehr gemocht, klassische Stücke zu spielen. Ich habe damit aber nie eine konkrete Vorstellung über meine Zukunft verbunden. Ich habe mich nicht in einem klassischen Orchester gesehen. Es war immer der Moment, der gezählt hat. Als ich angefangen habe, mit Jazzmusikern zu spielen, habe ich natürlich auch sehr viel Musik gehört. Der Jazz war mir damals längst nicht so vertraut wie die Klassik. Aber ich wollte diese Erfahrung machen. Ich wollte diese Musik spielen können. Insofern spiegelt meine musikalische Entwicklung nichts anderes wider als die Obsession, die ich immer mit Musik verbinde und die mich mit der Musik verbindet. Eine Stadt wie London ist dabei natürlich sehr hilfreich. Die Szene ist riesig, man findet hier exzellente und offene Musiker, die alle denkbaren Formen improvisierter Musik praktizieren, so dass man sich umfassend ausprobieren kann. Dabei waren in der Anfangszeit zum Beispiel der Kontakt zum London lmprovisers Orchestra und zu Musikern wie Pat Thomas oder John Butcher sehr wichtig für mich.

Nun haben Sie zwar erklärt, nicht gerne in die Zukunft zu blicken, aber was denken Sie: Wie wird sich die sehr spannende Kombination aus vielbeschäftigter Musiker und nicht minder gefragter Auftragskomponist bei Ihnen entwickeln?

SH: Da sehe ich zumindest keinen Konflikt. Ich komponiere immer dann, wenn ich zeitliche Freiräume habe oder wenn ich eine Deadline einzuhalten habe. Dabei geht es auch weniger um Inspiration. Wenn ich weiß, ich habe jetzt noch zwei Tage, um ein Stück abzuliefern, dann bekomme ich das auch hin. Ich setze mich dann einfach hin und schreibe. Im Moment habe ich aber das Gefühl, das Komponieren und das Touren ergibt oft einen nicht wirklich gesunden Mischmasch. Ich habe mir vorgenommen, das alles etwas mehr in Blöcken zu organisieren und dadurch hoffentlich mehr Nachhaltigkeit in die Abläufe zu bekommen – und vielleicht auch klarere Abgrenzungen.

Mal schauen …