Anja Lechner – die Geschichte von Tönen

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2017 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

Musikalische Traum-Bilder — Tarkovsky Quartet 

Der französische Pianist Francois Couturier ist ein bekennender Cineast. So wurde ihm der sowjetische Filmemacher Andrei Tarkowski zu einer kontinuierlichen Quelle der Inspiration, die sich sukzessive auch künstlerisch manifestierte. Mit seinem vor mittlerweile 12 Jahren gegründeten, anfangs noch namenlosen Quartett spielte er 2006 das Album “Nostalghia – A Song For Tarkovsky” ein. Es folgten zahlreiche Konzerte und Festivalauftritte sowie zwei weitere Alben, nun auch offiziell unter Tarkovsky Quartet firmierend. Die hochgelobte Formation besteht von Beginn an aus Couturier, der auch für die meisten Kompositionen verantwortlich zeichnet, dem Saxofonisten Jean-Marc Larché, Jean-Louis Matinier am Akkordeon sowie der Münchener Cellistin Anja Lechner. Das aktuelle Album trägt den Titel “Nuit Blanche”. In seinem Zentrum stehen sieben intuitiv perfekt ausbalancierte, sich in geradezu magischer Leichtigkeit vollziehende Gruppenimprovisationen, die sich allesamt mit dem Schlüsselthema des Albums befassen, dem Traum – nicht ganz zufällig auch ein zentraler Aspekt in der Bildsprache Tarkowskis. Das herausragende an diesem Quartett ist, dass es hier nach so vielen Jahren gemeinsamen Musizierens nicht nur um Vertrautheit geht, bekanntlich ein Synonym für passive Sicherheit, sondern um echtes Vertrauen, also um eine proaktive Haltung zueinander, welcher der Wille zum künstlerischen Risiko eingeschrieben ist. Wir hatten die Gelegenheit, mit Anja Lechner über die Arbeit als Teil dieses nicht nur exzellent besetzten, sondern vor allem ästhetisch faszinierend hoch entwickelten Quartetts zu sprechen, das jenseits aller Genregrenzen eine eigene, manchmal fast synästhetische Tonsprache entwickelt hat. 

Es ist viel über die Bildhaftigkeit der Musik des Quartetts geschrieben worden. Wie ist das für Sie persönlich beim Spielen: Sehen Sie Bilder?

AL: Ich sehe keine Bilder beim Musikmachen. Für mich ist Musik immer Musik. Aber natürlich kenne ich alle Tarkowski-Filme. Seine Bildsprache, die ich übrigens als sehr musikalisch empfinde, inspiriert uns alle immer wieder. Wir versuchen, uns darüber in einen bestimmten Zustand zu begeben. Dabei helfen natürlich auch die Kompositionen, die François Couturier geschrieben hat und die ganz bewusst einen starken Bezug zur Bilderwelt Tarkowskis aufweisen. 0obwohl wir uns bei “Nuit Blanche” zum ersten Mal vereinzelt auch ein wenig von diesen Tarkowski-Bezügen entfernt haben. Andererseits ist er durch seine Filme, ihre Figuren und Situationen, die mich schon durch mein halbes Leben begleiten, wirklich zu einem Teil von mir geworden. Dieses Gefühl wird mich nicht mehr verlassen. ich werde mich immer freuen, wenn in irgendeinem Kino ein Tarkowski-Film läuft, den ich mir dann anschauen kann.

Es ist ja eine fast schon süffisante Pointe, dass zwar Tarkowski nie einen Film namens “Nuit Blanche” gedreht hat, wohl aber ein anderer bedeutender Regisseur seiner Epoche Luchino Visconti: “Weiße Nächte” nach einer Erzählung von Dostojewski. War ihnen das bewusst? 

AL: Ja, das war uns bewusst. François Couturier ist ja ein ausgewiesener Filmkenner. Der Arbeitstitel der CD war übrigens “Der Traum”. Das beschreibt nicht nur Tarkowskis Bilderwelt, darin ist sicher auch eine Verbindung zu Visconti zu sehen.

lngmar Bergman, um die Ahnengalerie der einflussreichsten europäischen Regisseure noch weiter abzugehen, sah in Tarkowski ja deshalb den bedeutendsten Regisseur, weil er das Leben als Traum darstelle. Das ist auch ein wichtiges Thema auf ihrem Album. Welche Bedeutung hat der Traum für Sie?

AL: Die meisten Stücke des Albums, die das Wort Traum im Titel führen, sind reine Improvisationen. ich denke, man könnte den Traum umschreiben als das Verbundensein mit dem eigenen Unterbewusstsein. Denn genau so ist es uns beim Spielen gegangen: Wir haben, ohne irgendetwas abzusprechen, einfach angefangen zu spielen. Neben den auskomponierten Stücken, zu denen es ein Arrangement oder zumindest klare Vorstellungen gab und die man so lange wiederholt, bis das Stück und unsere Vorstellung davon in Einklang sind, waren diese improvisierten Titel jedes Mal eine Art von Befreiung.

Wir wussten weder, ob sie kurz oder lang werden würden, ob am Ende ein fertiges Stück steht oder, wie sich schließlich gezeigt hat, sieben. Das ist für mich die Verbindung zum Traumbegriff: Es ereignen sich manchmal Dinge, die man sich nicht vorstellen kann oder die ganz anders sind als im richtigen Leben.

Das Empfinden für Stimmungen muss in diesem Quartett recht kongruent sein.

AL: Ja. Das ist über Jahre gewachsen.

Das Besondere scheint mir darüber hinauszusein, dass die Improvisation hier anders abgelaufen sein muss, als man sich das gemeinhin aus dem Jazz vorstellt. Ihre Form der Improvisation ist nicht primär eine solistische Leistung, sondern kommt aus einer Art unteilbarem Organismus und bleibt jederzeit konstitutiver Bestandteil dieses Ganzen. 

AL: Es ist das Besondere an diesem Quartett, dass wir uns so gut kennen und dass wir so viel Vertrauen zueinander haben, dass wir uns tatsächlich auf einer Wellenlänge bewegen. Dadurch wird diese Art der kollektiven Improvisation überhaupt erst möglich. Mit Unbekannten ginge das nicht. ich finde ihren Hinweis auf die Improvisationsform übrigens, sehr wichtig. Denn es wird oft vergessen, dass es viele Arten des Improvisierens oder des freien Kommunizierens in der Musik gibt. Die im Jazz übliche ist nur eine unter vielen. In unserem Falle spielt sicher auch eine Rolle, dass wir aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommen: François kommt aus dem Jazz, auch wenn er heute nur noch seine ganz eigene Musik spielt, Jean-Louis kann eigentlich jede Art von Musik spielen, er verfügt über eine sehr hoch entwickelte spontane Aufnahmefähigkeit, mit der er es meisterhaft versteht, Räume und Übergänge in der Musik zu gestalten.

Jean-Marc kommt ursprünglich aus der Klassik, spielt heute aber fast ausschließlich Jazz. Und ich selbst komme ebenfalls aus der Klassik, bin immer noch eine klassische Cellistin, spiele aber seit meinem 16. Lebensjahr auch mit improvisierenden Musikern zusammen.

Ich hatte beim Hören des Albums den Eindruck, dass es sich horizontal um eine sehr klar und sicher fließende Musik handelt, die beim Abtauchen in die Tiefe aber sehr fragil oder sagen wir kristallin wird, unterstützt durch eine wunderbare Tonbildung, wie sie im Jazz nicht unbedingt unüblich ist.

AL: Diese Klarheit und dieses Fließen, von dem Sie sprechen, ist unter anderem auch das Resultat einer bestimmten Abfolge der Stücke. Die hat übrigens Manfred Eicher festgelegt. Das hat unser eigenes Empfinden von dieser Musik nochmals komplett verändert. In der richtigen Reihenfolge kann sich Musik tatsächlich völlig anders anfühlen. Manfred Eicher ist in diesen Dingen wahrlich ein Meister. Als Musiker könnte man das in dieser Form nicht selbst leisten. 

Es gibt Stellen auf der Platte, an denen ich den Eindruck hatte, dass die Töne besonders lange stehen bleiben. Das gibt einem einen Eindruck davon, dass ein einzelner Ton, perfekt gesetzt, manchmal die Kraft besitzt, eine ganze Geschichte zu erzählen.

AL: Diese Frage begleitet mich im Grunde schon mein ganzes Leben: Was ist ein Ton? Wie hat ein Ton zu klingen? Wenn man ein Instrument lernt, geht es erst mal darum, dass der gespielte Ton richtig und schön ist, aber später wird immer bedeutsamer; was er erzählt. Dazu muss er auch nicht immer schön sein. Natürlich geht es dabei immer auch um die Frage: Was ist vor dem Ton und was ist nach dem Ton? Mir ist das extrem wichtig, weil es etwas mit hinhören oder zuhören zu tun hat: sich selbst, den anderen, dem Klang an sich. Und genau das ist mit diesem Quartett so wunderbar möglich. Denn es ist gerade in der gemeinsamen Improvisation nicht leicht hinzubekommen, dass jeder seinen Raum behält und trotzdem nicht zu viele Noten nebeneinander stehen. Aber glücklicherweise ist jeder von uns in der Lage, sich selbst auch mal zurückzunehmen, um dem anderen – oder besser: um der Musik selbst Raum zu geben.

CD Tarkovsky Quartet “Nuit Blanche”
ECMiUniversal 2524 572 9067