Der frühromantische Dichter und Philosoph Novalis schrieb einst: „Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem – die Heilung eine musikalische Auflösung.“
Mit keiner Kunstform sind unsere Empfindungen unmittelbarer und beiläufiger verbunden als mit der Musik. Aus gutem Grund wird sie therapeutisch als Ausweg aus der Wortsprachlosigkeit und als emotionaler Verstärker genutzt. In einer Zeit, in welcher der Dialog immer mehr als Abfolge oder sogar Gleichzeitigkeit von Monologen verstanden wird, kann uns die Art und Weise, in der wir mit der Musik in Kontakt treten, alternative Handlungsmuster und damit Auswege aufzeigen. Dadurch setzt die Musik heilende Kräfte frei. Denn im Zuhören lernen wir, miteinander zu sprechen.
„Musik ist also deshalb von so großer Kraft und Intensität, weil wir uns in ihr unserer selbst versichern.“
Herr Kern, Sie haben Enjoy Jazz zum zweiten Mal in Folge unter ein Motto gestellt, nachdem Sie 24 Jahre lang ohne ausgekommen sind. Warum?
Man könnte leicht auf die Idee kommen, das läge daran, dass unser letztjähriges Motto „Trust“ eine so positive Resonanz gefunden hat. Aber das ist nicht der Grund. Es geht vielmehr um Transparenz. Wir haben uns wieder für ein Motto entschieden, weil wir mit unserem Publikum und unseren Künstler:innen jenen Leitgedanken teilen wollten, der uns und insbesondere mir beim Kuratierungsprozess Inspiration und Verpflichtung zugleich war: Healing.
Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?
Ich hoffe doch sehr, nicht nur mir. „Good Health and Well-being” ist das dritte der 17 Nachhaltigkeitsziele, der sogenannten SDGs der Vereinten Nationen, die als eine ganz wesentliche Grundlage unseres globalen Zusammenlebens konzipiert wurden. Es beschreibt, logisch verknüpft mit weiteren SDGs wie „Nachhaltige Städte und Gemeinden“, zugleich eine der wichtigsten Aufgaben von Kunst und Kultur. Diese kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit konnte perspektivisch zu einem echten Gamechanger werden. Zahlreiche Studien weisen der Musik und insbesondere dem Jazz dabei eine besondere, ja geradezu katalytische Rolle zu.
Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?
Wie viel Zeit haben Sie? Eine Studie der Medical School an der Johns Hopkins University fasst es wie folgt zusammen: Das Hören von Jazzmusik kann die Gedächtnisleistungen, die Stimmung und die sprachlichen Fähigkeiten verbessern. Jazzmusik kann bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizitstörungen oder anderen kognitiven Beeinträchtigungen unterstützend wirken, indem sie die Konzentrationsfähigkeit erhöht. Und nicht zuletzt steigert sie die Kreativität. Und zwar u.a. dadurch, dass sie Sprachmuster verbessert, wodurch das Gehirn effizienter arbeiten kann. Eine von der University of Nevada durchgeführte Studie ergab außerdem, dass Jazzmusik ein sehr gutes Mittel zum Stressabbau ist, weil sie die Herzfrequenz senkt, was sich günstig auf Bluthochdruck oder andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen auswirkt. Generell ist der Jazz in der Lage, Menschen dabei zu helfen, über den Tellerrand hinaus zu blicken und neue, innovative Ideen zu entwickeln. Jazz ist also ein veritabler kognitiver und kreativer Boost.
Heißt das, Sie glauben daran, dass in unserer sich multikrisenhaft verdichtenden Welt Heilung noch möglich ist?
Ja. Heilung ist möglich. Solange wir sie nicht nur erwarten, sondern ermöglichen. Proaktiv.
Das müssen Sie erklären.
Wir alle kennen doch die Lage. Wir befinden uns global nicht nur in einer Phase, sondern in einer Epoche allgegenwärtiger und allumfassender Überdehnungen, Risse und Verletzungen. Die Bedingungen unseres Zusammenlebens verändern sich gerade in rasender Geschwindigkeit. Dabei stehen wir vor der in unserer traditionell wachstumsgeprägten Weltsicht bislang nicht vorgesehenen Erfahrung, dass die Versäumnisse der Vergangenheit und die Fehlentwicklungen der Gegenwart möglicherweise nicht mehr vollumfänglich heilbar sind. Die einen sind im Schockzustand, die anderen flüchten sich in Verdrängung und Ignoranz. Alles drängt an die Ränder. Daraus hat sich unter anderem etwas entwickelt, das man als die bislang größte Herausforderung unserer Demokratie bezeichnen konnte.
Das klingt alles in allem nach einer sehr pessimistischen Einstellung.
Wenn man in möglichen Szenarien denkt, mag dieser Eindruck entstehen. Aber wie bereits gesagt: Ich glaube, Heilung ist möglich. Und weil ich daran glaube, habe ich mich gefragt: Welche Rolle können und sollten Musik und Kunst für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die persönliche Entwicklung des Menschen in einer sich zunehmend multikrisenhaft entwickelnden Welt übernehmen?
Das ist ein ziemlich großes Gewicht, das Sie der Musik da auf die Schultern packen wollen. Warum, glauben Sie, kann die Musik diese Last tragen?
Grundsätzlich ist das größte Kapital von instrumentaler und insbesondere von improvisierter instrumentaler Musik der ihr eingeschriebene Verzicht auf eine verallgemeinerbare Konkretisierung. Und wo keine konkrete Bedeutung eingeschrieben ist, kann man sich vergleichsweise leicht selbst einschreiben mit seinen Gedanken und Gefühlen. Musik ist also deshalb von so großer Kraft und Intensität, weil wir uns in ihr unserer selbst versichern und uns zugleich anderen mitteilen können. Im Hören wie im Spielen. Diese Gleichzeitigkeit von Teilhabe und Teilbarkeit sind wichtige Grundlagen für die therapeutische Wirkung von Musik. Denn, und jetzt komme ich auf den Punkt, Musik setzt heilende Kräfte frei.
Eine Haltung, die doch wohl stark in den Bereich der Spiritualität und der Esoterik hineinspielt.
Das halte ich für ein Klischee. In der Wissenschaft stoßen Sie längst auf zahlreiche nachhaltige Fortschritte durch den gezielten Einsatz von Musik – beispielsweise in der Schmerztherapie, bei der Stabilisierung von Frühgeborenen, in der Autismus-Forschung oder bei der Behandlung neurologischer, geriatrischer und psychiatrischer Erkrankungen.
Gibt es konkrete Bezüge zum Jazz?
Ja klar. Viele. Albert Ayler, einer der Wegbereiter des Free Jazz, nannte schon ein vor 55 Jahren erschienenes Album mit Material aus seiner letzten Studio-Session „Music Is The Healing Force Of The Universe”. Ein anderes Beispiel ist unser „Artist in Residence 2024“, Nduduzo Makhathini. Der weltweit gefeierte Südafrikaner ist nicht nur Pianist, er ist auch ausgebildeter Heiler. Die in diesem Jahr bei Enjoy jazz auftretende Pariser Flötistin Naissam Jalal hat ihr hochgelobtes aktuelles Album „Healing Ritual“ betitelt und erklärte dazu: „Meine Heilungsrituale befassen sich mit den drei Imperativen eines Körpers im Schmerz: Stille, Trance und Schönheit.“ Und der ebenfalls beim Festival auftretende kanadische Saxofonist Jowee Omicil erinnert mit seinem aktuellen Konzeptalbum „Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite“ an eine konspirative Versammlung von Freiheitskämpfern afrikanischer Abstammung, die als Initial der haitianischen Revolution um 1800 gilt. Grundsätzlich betrachte ich Healing als einen der zentralen Gedanken innerhalb der Sozialgeschichte des Jazz, vielleicht sogar als ihren eigentlichen Schnittpunkt.
Dann ganz direkt gefragt: Kann Musik heilen?
Ich würde es so formulieren: Die Musik selbst heilt nicht. Sie tut viel mehr. Sie ermächtigt zur Heilung. Und das auf vielfältige Weise und in unterschiedlichen sozialen Kontexten.
Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?
Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen hat unlängst nachgewiesen, dass Schulen mit erweitertem Musikunterricht – also dem Erlernen eines Instruments oder dem Musizieren in Ensembles – im Vergleich zu Schulen mit nur regulärem Musikunterricht eine geringere Zahl ausgegrenzter Schüler:innen aufweist. Daraus ergibt sich sowohl eine nachhaltige Stärkung der individuellen Persönlichkeit und Fähigkeiten als auch ein gesichert verankertes Gefühl für Gemeinschaft und die eigene Mitverantwortung dafür, dass sie funktioniert. Auch in unserer eigenen Enjoy Jazz Schul- Bigband, geleitet und begleitet von drei wunderbare Musik-Pädagogen, beobachten wir neben den künstlerischen auch genau diese sozialen Qualitäten.
Apropos: Sie haben in diesem Jahr, wenngleich nicht extra ausgewiesen, aber doch erkennbar, einen eigenen Themenschwerpunkt „Young“ im Programm.
Wir hatten natürlich schon immer Angebote für ein junges und sehr junges Publikum im Festival. Aber in diesem Jahr wollten wir dieses wichtige Thema noch intensiver mitführen. Denn eines sollten wir nicht vergessen: Kinder und Jugendliche waren von den pandemischen Einschränkungen samt Folgen am härtesten betroffen. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten hat sich verdoppelt, die pathologische Nutzung der sozialen Medien hat sich um 44 Prozent, die von Computerspielen sogar um 52 Prozent erhöht. Die Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung sowie psychische und körperliche Gewalt hat durch die Pandemie den höchsten Stand seit Einführung der entsprechenden Statistik erreicht. Ich finde das ganz schrecklich. Auch in unserer Region fehlt es bei allen Anstrengungen aktuell immer noch an Angeboten für Jugendliche.
Und das wollen Sie ändern?
Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass die Jugendlichen selbst gezielter und unabhängiger agieren können. Es geht uns dabei nicht nur um Teilhabe, sondern um Ermächtigung. Deshalb haben wir in diesem Jahr ein Pilot- Projekt durchgeführt, das ab 2025 fest ins Festival-Programm aufgenommen werden soll, die sogenannte „Youth Challenge“. Dabei geben wir Jugendlichen die Chance, alle Gewerke des Event-Managements kennenzulernen mit dem Ziel, selbstständig eine Konzert- oder Party-Veranstaltung zu organisieren und durchzuführen: vom Booking über Technik und Finanzen oder die Suche nach Kooperationspartnern bis zur eigentlichen Veranstaltung. Bei Fragen können sie jederzeit auf ein Backup-Team von Enjoy Jazz zurückgreifen. Das Engagement der Jugendlichen war unglaublich. Am Ende war die Veranstaltung mit über 1.000 Besuchern derart gut besucht, dass der Abendkassen-Verkauf eingestellt werden musste. Und das war ihr Erfolg, nicht unserer. Wir waren einfach nur für sie da und haben ihnen vertraut.
Bleibt die Frage, ob jede Musik automatisch auch eine „Healing Music“ ist?
Das ist eine sehr gute und zumindest durch mich nicht eindeutig zu beantwortende Frage. Vermutlich nicht. Dazu ist die Kunstform zu vielfältig. Für die Genres Jazz, Klassik und zum Beispiel Art Rock gilt das sicher eher als für Teile der aktuellen Popmusik, sofern sie die gesellschaftlichen Stimmungen widerspiegelt.
Was meinen Sie damit?
Im Frühjahr hat die Zeitschrift „Scientific Reports“ eine Studie veröffentlicht, in der über 12.000 Songtexte aus den letzten 40 Jahren untersucht wurden. Unter anderem wurde betrachtet, welche Gefühle auf welche Weise und mit welchen sprachlichen Mitteln ausgedrückt werden. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Die Texte haben im Laufe der Zeit vor allem an Komplexität verloren, weisen zunehmend Wiederholungen innerhalb des einzelnen Textes auf und sind inzwischen deutlich selbstbezogener. Negative Emotionen wie Wut, Abscheu und Traurigkeit haben das Positive und Freudige abgelöst. Wichtigster Bezugspunkt ist das isolationistische Ich und nicht das verbindende Wir. Entsprechend finden sich die Worte „ich“ und „mein“ heute deutlich häufiger in den Texten als früher. Zusammenfassend spricht die Studie daher zurecht von Songtexten als einem „Spiegel der Gesellschaft“. Das Problem ist nur: In Krisenzeiten ist spiegeln nicht genug und wirkt schlimmstenfalls sogar ungewollt bestätigend. Das hat, zumindest moralisch und ausgenommen bestimmte Spielarten des Rap, zu einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der populären Musik geführt.
Dafür verkauft sie sich aber immer noch ganz gut.
Ja. Die Lust, Musik zu konsumieren, wird immer da sein. Und das ist auch gut so. Aber ist Ihnen aufgefallen, dass die aktuellen gesellschaftspolitischen Bewegungen die ersten sind, zu denen es, zumindest bislang, keinen Soundtrack gibt? Das ist einer der Gründe, warum mich das Thema „Healing“ so fasziniert. Es wird gerade in der Musik ganz neu entdeckt und dabei verstanden als eine genreübergreifende Möglichkeit, der Musik nicht nur ein nachhaltig positives Narrativ auf neue Weise einzuschreiben, sondern sie zum Teil der wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Bewegung zu machen, die ich mir vorstellen kann: dem Menschsein.
„Das Thema „Healing“ wird gerade in der Musik ganz neu entdeckt und dabei verstanden als eine genreübergreifende Möglichkeit, der Musik nicht nur ein nachhaltig positives Narrativ auf neue Weise einzuschreiben, sondern sie zum Teil der wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Bewegung zu machen, die ich mir vorstellen kann: dem Menschsein.“
Datum: 31. August 2024