Ornette Coleman & Enjoy Jazz – ein Interview

2005 nahm Ornette Coleman bei Enjoy Jazz sein mittlerweile legendäres Album “Sound Grammar” auf, für das er 2007 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Ein Jahr später kam er zurück nach Heidelberg, um ein weiteres. dieses Mal ein stark am Blues orientiertes Konzert zu spielen. Nach diesem Auftritt  gab er nur ein einziges kurzes Interview, das 2008 im Magazin “Jazz Podium” erschien. Im Folgenden finden Sie das Interview im Original.

Vor drei Jahren spielte der damals 75-Jährige Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman im Rahmen des Enjoy Jazz Festivals sein inzwischen mit Preisen überhäuftes Album „Sound Grammar” ein. Nun, drei Jahre später, gab er im selben Rahmen ein erneut frenetisch gefeiertes Konzert in der Heidelberger Stadthalle. Eine Aneinanderreihung kurzer pointierter Stücke, ein hoch energetischer assoziativer Parforce-Ritt, eine nahezu melodienlose Séance, angeleitet von einem gewohnt spitz gespielten Saxophon, dessen nie exakt zu verortender unakademischer Ton im Stile spontaner Bugwellen ins Publikum schwappte und dabei intensivste Schauer auslöste.

Jedem war klar: Hier wohnt man gerade Jazzgeschichte bei. Apropos Jazzgeschichte: Colemans berühmtes musiktheoretisches Konstrukt namens „Harmolodics” hat – einem großen, nie geschriebenen Roman gleich – inzwischen Generationen von Musikwissenschaftlern beschäftigt. 

Doch wie im Falle der großen universellen mathematischen Rätsel blieb uns die Auflösung bis heute versagt. Und vielleicht liegt genau darin sein eigentlicher Sinn: Denn kann ein bekennendes Individuum nicht überhaupt nur einer Theorie folgen, die es nicht versteht? In diesem Sinne sind auch die raren Interviews mit Ornette Coleman eine Herausforderung. Sie sind wie seine Musik. Eine einzige freie Assoziation, in die gelegentlich folkloristische Motive eingestreut werden. Ein mal simpler, mal undurchdringlich durchgeistigter und mal einfach nur aberwitziger, durch Fragen nicht zu erschütternder Monolog als Beschwörung des freien Geistes, dessen höchster und vielleicht sogar einziger Sinn in eben dieser Freiheit zu bestehen scheint.

 

Ihr letztes Album „Sound Grammar” gilt bereits als Meilenstein der zeitgenössischen Musik und hat eine erneute Coleman-Renaissance eingeläutet. Sie definieren den Titel als eine „universale Methode für den Klang aller Sprachen”. Kann man darin auch eine Spezifikation ihres geradezu mythischen „Harmolodics” Theorems sehen?

 

Ja, es ist als eine Teilmenge dieses Systems zu begreifen. Denn das Wichtigste, das wir alle gemeinsam haben, ist die Idee vom Menschsein, wie sie sich in der Lautgebung äußert. Und diese Idee gehört allen in gleichem Maße. In jedem einzelnen steckt etwas, das die Qualität besitzt, ihn kraft seines Herzens und seiner Seele zu einem besseren Menschen zu machen. Es muss nur zum Ausdruck gebracht werden. Das ist die Idee hinter „Sound Grammar”.

 

Ist es demnach auch als ein System zu verstehen, die eigenen Möglichkeiten und die eigene Kreativität künstlerisch zu gestalten?

 

Ja, ja, absolut richtig. Genau das soll sichergestellt werden.

 

Ihre Musik-Performance wirkt heute wie eine untrennbare Einheit musikalischer, sozialer und philosophischer Elemente …

 

… alles zutiefst menschliche Komponenten, richtig?

 

Richtig. Ich frage mich nur, wie Sie diesen Mix organisieren?

 

Das ergibt sich ganz natürlich aus dem menschlichen Charakter. Der Mensch ist in der wunderbaren Lage, alles zuzulassen, woran er glaubt, ohne jeden Anflug von Destruktivität. Stimmen Sie mir zu? Es ist eine zentrale Erkenntnis des Menschseins, das, was man nicht oder nicht sofort versteht, nicht zwangsläufig ablehnen oder zerstören zu müssen. Genauso wie man niemandem Schmerzen zufügen muss, nur weil er nicht nach meiner Pfeife tanzt. Denn nichts auf der Erde ist so hoch entwickelt wie der Mensch. Er hat die am höchsten entwickelten Möglichkeiten und die besten Bedingungen, sich frei zu entfalten.

 

Können Sie sich vorstellen, dass es im Fortgang der Jazzgeschichte noch einmal eine derart bedeutsame Entwicklung geben wird wie die, für die Ihr Name steht?

 

Ja, das glaube ich durchaus. Natürlich wird sie dann vermutlich einen anderen Namen tragen als „Harmolodics”. Ich glaube das übrigens deshalb, weil ich überhaupt nur an eine Geschichte glaube, an die der Ideen. Und die wird weitergehen. Weil Ideen dazu bestimmt sind, geteilt zu werden. Die Ideen gehören allen.

 

Interview: Volker Doberstein

Foto: Manfred Rinderspacher