Der Pate der Coolness – Lee Konitz

Es hat etwas gespenstisch korrekt Anmutendes, dass ausgerechnet Lee Konitz der letzte noch lebende Musiker ist, der an den heute als bahnbrechend geltenden “Birth of The Cool” Sessions des Miles Davis/Gil Evans Nonet der Jahre 1949 und 1950 teilnahm. Galt er doch, ausgerechnet aufgrund seiner Hautfarbe als das umstrittenste Mitglied des Ensembles. Joe Zawinul hat über diesen “gewendeten Rassismus”, den man gerne ausschließlich als eine Verteidigungshaltung begreifen würde, in einem gemeinsamen Gespräch vor vielen Jahren sehr eindrucksvoll berichtet, und zwar, wie Konitz auch, in einer menschlich sehr bemerkenswerten Mischung aus Verständnis und Ratlosigkeit. Über persönliche Verletzungen haben beide generös hinweggesehen. Der heute 88-jährige Konitz wurde nicht nur durch die Nonet-Aufnahmen zu einem Aushängeschild des neuen Cool Jazz. Sein legendäres Album “Subconscious-Lee” ist neben den EPs, die von den “Birth of The Cool” – Sessions veröffentlicht wurden, der erste Höhepunkt des Genres.

Hinweis: Dieses Interview fand ursprünglich im Jahr 2016 statt und wird hier anlässlich des 25. Jubiläums von Enjoy Jazz veröffentlicht. Die im Interview gemachten Aussagen und Bezüge beziehen sich auf diesen Zeitpunkt.

 

“Ich erinnere mich noch sehr gut an die ,Birth Of The Cool – Sessions”, erzählt Konitz. “Es war eine sehr aufregende Zeit und schon der Beginn der Aufnahmen wirkte auf nicht geradezu erhellend. Dabei hatte ich mich anfangs irgendwie deplatziert gefühlt. Weil Sonny Stitt und einige andere sich wohl bei Miles darüber beschwert hatten, dass er mich in die Band geholt habe. Aber ich hatte die volle Rückendeckung von Miles, Gil und Gerry, das hat mir natürlich geholfen. Allerdings haben mich die Aufnahmen mit dem sicheren Gefühl zurückgelassen, dass dies nicht das Beste, was, was diese Band zu leisten imstande gewesen ist. Ich habe bis heute keine zufriedenstellende Erklärung dafür, warum das so war. Ich habe es aber zu jeder Zeit genossen, Teil dieses spannenden Prozesses zu sein. Die Musik war eine neue Herausforderung, von der ich denke, dass wir sie damals nicht zur vollsten Zufriedenheit gemeistert haben. Vor allem stimmte die Phrasierung in der Band meines Erachtens nicht, die Musiker kamen damals aus verschiedenen musikalischen Welten, und ich finde, das hört man auch.”

Die beiden aus diesen Sessions zunächst hervorgegangenen EPs fanden einige Beachtung. Mit Respekt und Akzeptanz wurde Lee Konitz, vor allem aus dem Kollegenkreis, damals dennoch nicht gerade überschüttet. Immer noch mit sichtlichem Unbehagen erzählt er die Geschichte, wie Sonny Stitt und Stan Getz während einem seiner damaligen Auftritte seine Musik durch einen slapstickartigen Tanz vor der Bühne, für alle sichtbar ins Lächerliche zogen. Er selbst hatte es, geblendet durch die Scheinwerfer, gar nicht gesehen, spürte aber das Feixen im Publikum und hat sich die Geschichte später von einer anwesenden Freundin erzählen lassen. Die Gründe für das despektierliche Verhalten der Kollegen lassen sich nur erahnen: Stan Getz geriet, auch infolge des nahezu permanenten Drogenmissbrauchs, charakterlich bekanntlich des Öfteren in eine Schieflage. Legendär ist die wenig schmeichelhafte Episode aus jener Zeit, die ihm einen von mehreren Gefängnisaufenthalten einbrachte. Mit einer Spielzeugpistole bewaffnet versuchte er in einer Apotheke die Herausgabe von Betäubungsmitteln zu erzwingen. Bei Sonny Stitt lag die Sache vermutlich anders. Er galt, aufgrund seiner sehr zeitgemäßen technischen Versiertheit, zunächst als Favorit für die Besetzung des Altsaxophons des Miles Davis/Gil Evans Nonet. Weil man aber die Bebop-Fraktion innerhalb des Ensembles nicht weiter stärken wollte und auf der Suche nach einem neuen, eher introvertierten Sound war, fiel die Entscheidung zugunsten von Lee Konitz. Das stieß der Black Community sehr sauer auf. Ihr Standpunkt war klar: Warum engagiert man im Bereich der Black Music einen Weißen, wenn es doch genug Schwarze gibt, die für den Job verfügbar waren? Einer davon war Sonny Stitt, dem der Job damals fraglos gutgetan hätte. Zum einen schlug auch er sich mit Drogenproblemen herum. (Eine Formulierung, die angesichts des Umstandes. Dass er gerade wegen Drogenhandels verurteilt worden war, eigentlich einem Euphemismus gleichkommt.) Zum anderen musste er sich von den ewigen Vergleichen mit Charlie Parker befreien, nicht zuletzt deshalb, weil der ihm bereits etliche Jahre zuvor wenig schmeichelhaft vorgeworfen hatte, viel zu sehr nach ihm zu klingen. Was auch deshalb tragisch war, weil Stitt selbst immer und durchaus nachvollziehbar betonte, seinen Sound unabhängig von bzw. sogar schon vor Parker entwickelt zu haben, wobei er sich stark von Lester Young beeinflusst sah, der ohnehin so etwas wie der gemeinsame Nenner des Aufbruchs am Saxophon war. Durch den Wechsel zum Tenorsaxophon als Hauptinstrument beendete Sonny Stitt diese leidige Diskussion schließlich selbst.

 “Birth of The Cool” versammelt und verarbeitet derart viele Einflüsse, dass sich die Frage stellt, wer hier eigentlich federführend war bzw. wer die Band und das Projekt geleitet hat, das heute unter den Alben von Miles Davis als Leader gelistet ist? Der Letzte, der darüber noch aus eigenem Erleben Auskunft geben kann, ist Lee Konitz: “Gerry und Gil hatten, allein schon durch ihr Arrangement bzw. durch ihre Vorstellung davon, wie diese Musik klingen sollte, sicherlich den größten Einfluss. Und Miles war so etwas wie der von ihnen auserkorene Stadt, könnte man sagen. Er hat sich brillant in dieses Klangkonzept hinein gearbeitet. Er war die Verkörperung dieser Ideen.” Obwohl Konitz damit kokettiert, dass seine Erinnerungen allmählich verblassen würden und er die Periode vor allem in Form von Bildern noch präsent habe, ist der Eindruck von den menschlichen Begegnungen der Zeit  ungetrübt: “Dass wir es hier mit etwas Neuen zu tun haben, war natürlich spürbar. Die Arrangements waren großartig, die Beteiligten allesamt sehr besonders. Gerry war ein überaus eigentümlicher Charakter, aber vor seiner Arbeit habe ich bis heute den allergrößten Respekt. Gil möchte ich persönlich sehr. Er war ungemein liebenswürdig, zurückhaltend, und trotzdem auf seine leise Art sehr präsent.”

Lee Konitz erzählt all dies mit einer gewissen Distanz, die nicht nur Resultat einer gewissen Altersweisheit ist. Im Grunde ist der stilbildende Altsaxophonist zeitlebens ein Einzelgänger gewesen. Dabei ist Lee Konitz ein durchaus smarter Gesprächspartner, der über einen sehr feinen Humor verfügt. Als ich in unserem jüngsten Gespräch am Rande des Enjoy Jazz Festivals das Band anstellte, um die erste Frage zu stellen, kam er mir zuvor, indem er munter grinsend drauflos plapperte: “Ich wurde in grauer Vorzeit geboren und …” Dann brach er in ein ansteckendes Lachen aus. Aber: Längere musikalische Kooperationen z.B. im Sinne einer eigenen Working Band gab es bei ihm im Grunde nie. Seine Kindheit war hier prägend. Die beiden deutlich älteren Brüder nahmen ihn zwar, zur Aufsicht verdonnert, überallhin mit, doch dort fühlte er sich zumeist ausgeschlossen. Er saß im Kinderwagen, während seine Brüder Baseball spielten. Daraus entwickelte sich eine gewisse Sprachlosigkeit, eine nach innen gerichtete Kommunikation, die sich später auch in seinem Spiel auf dem Saxophon wiederfindet. Dass es in Konitz’ Katalog vor allem die zahlreichen Duo-Aufnahmen sind, die als besonders intensiv und gelungen gelten, ist ebenso Ausdruck dieser Vorgeschichte wie der Umstand, dass er bis heute wie selbstverständlich allein reist. Seine Frau bleibt zu Hause in New York. Und noch ein Indiz ist beeindruckend. Konitz verfügt über eine unglaubliche Gabe zur Beobachtung. Ihm entgeht in seiner Umgebung kein Detail. Er nimmt es auf und beginnt gedanklich sofort darüber zu improvisieren. Während eines rund einstündigen gemeinsamen Mittagessens beispielsweise schweifte er immer wieder ab – nicht despektierlich, sondern in einer Art meditativer Rastlosigkeit. Ein Paradox, das ihm sehr zu entsprechen scheint. Mal war dort ein kleines Kind am Nebentisch, mit dem er Kontakt aufnahm, um sich zu fragen, wie alt es wohl sei und was es gerade denkt, während es ihm freudige Blicke und Gesten zuwarf. Mal beobachtete er eine adipöse Frau und hinterfragte die sozialen Zusammenhänge von pathologischem Übergewicht.

Konitz’ musikalische Sozialisation erfolgte über die Big Bands von Teddy Powell und Claude Thornhill, die seinerzeit recht populäre-Musik machten, also noch weitgehend der Swing-Ara verpflichtet waren, und sich dem Bebop nur zögerlich geöffnet hatten. Allerdings wiesen die Arrangements vor allem bei Thornhill bereits in die neue, coole Zeit. Gerry Mulligan und Gil Evans zeichneten u.a. dafür verantwortlich. Als Konitz zum Nonet stieß, war er gerade mal 21. Er war stilistisch schwer einzuordnen, mit seinem enormen Drang zu einem sehr originären Sound und seiner ästhetisch gegen den Zeitgeist gerichteten Spielweise. Natürlich hatte er von Charlie Parker und vor allem Lester Young gelernt. Aber: Dem Aufbrechenden, kraftvoll und virtuos nach außen Drängenden des Bebop stellte er einen eigentümlich nach innen gerichteten Ton gegenüber, in welchem er die Virtuosität der Ästhetik unterordnete. Darüber fand Konitz, vor allem aufgrund seiner Motivik, zu einem Spiel, das ihn seinerzeit zum einzig vollgültigen Gegenentwurf zu Parker erhob. Am Ende der Hochphase des Bebop hatte er sich somit als Wegbereiter des Neuen profiliert. Dieses Neue konnte man zunächst problemlos dem Cool Jazz zurechnen. Das Coole, also introvertierte, Akademische, stärker Formbezogene lag Konitz. Doch die motivische Arbeit, die häufig Kunst-Musik-Charakter hatte und stark von der europäischen Klassik des 19. Jahrhunderts beeinflusst war, engte ihn zugleich ein. Also entwickelte er sein Spiel ungeachtet von Genregrenzen weiter.

So gebührt Lee Konitz das paradox anmutende Verdienst, zum Inbegriff eines. Jazzstils geworden zu sein, als er längst auf dem Weg war, ihn zu überwinden. Das ist die vielleicht größte Form von Freiheit, die man in der Musik erlangen kann. Er hat sie seitdem, über mehr als sechs Dekaden hinweg, in einer durch nichts zu erschütternden Selbstverständlichkeit ausgelebt: Er hat auf rund 200 Alben mitgewirkt, hat u.a. einige der besten Duo-Aufnahmen der Jazzgeschichte eingespielt, sich der Avantgarde nie verschlossen und sich außerdem als ebenso generöser wie zurückhaltender Förderer junger Talente erwiesen – übrigens auch in Deutschland, wo er immer noch zeitweise lebt und wo er seit etlichen Jahren u.a. mit dem Kölner Pianisten Florian Weber lose zusammenarbeitet.

Lee Konitz wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Jazzpar-Preis und dem NEA Jazz Master Fellowship, dem wichtigsten amerikanischen Jazzpreis. Außerdem wurde er in die Down Beat Hall of Fame aufgenommen. Trotzdem kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass er letztlich nicht die volle Anerkennung genießt, die ihm jazzhistorisch gebührt. Objektiv vielleicht, gefühlt nein. Um Konitz hat sich z.B. nie diese Art “beseelter Alters-Kult” entwickelt, wie wir ihn bei Kollegen wie Ornette Coleman, Sonny Rollins, Yusef Lateef oder Archie Shepp erleben oder noch erlebten, zu deren späten Konzerten die Menschen im Bewusstsein von Endlichkeit und damit potenziell unwiederbringlicher jazzgeschichtlicher Bedeutsamkeit geradezu pilgerten oder noch pilgern.

Vielleicht liegt das daran, dass man bei Konitz immer das Gefühl einer gewissen, wenngleich überaus höflichen Distanz hatte – nicht zur Musik, aber zum Musikbetrieb und seinen Mechanismen, denen er sich immer wieder und zum Teil über Jahre durch verstärkte Lehrtätigkeit entzog. Er bietet sich auch nirgends an, sondern wartet lieber auf Angebote. Es ist letztlich ein unerklärliches biochemisches Phänomen, das dazu führt, dass der eine Musiker unsere Anerkennung in offene Begeisterung zu verwandeln imstande ist und der andere eben nicht. Das macht letzteren weder zu einem schlechteren Musiker; noch zu einem schlechteren Menschen. Man muss sich ihm einfach nur anders nähern, um dieselbe Intensität zu spüren. So äußert Lee Konitz in unserem Gespräch am Ende jenen weisen Satz, der als Universal-Erklärung taugt, und der deutlich macht, dass er seinen Frieden gefunden hat: “Musik muss das eigene Leben repräsentieren.” In diesem Sinne ist Lee Konitz längst sein eigenes Zuhause – im Leben wie in der Musik. Seine Glaubwürdigkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Vielen großen Jazzmusikern war es nicht vergönnt, diesen Zustand der Kongruenz von Welt und ich zu erreichen.