Alexander von Schlippenbach – “Ich bin in einem Alter, in dem man schon mal ein bisschen Bilanz zieht”

Alexander von Schlippenbach, Schüler des Komponisten Bernd Alois Zimmermann, hat mit seinem Globe Unity Orchestra das freie Spiel in bis dahin ungeahnter Weise auf das Bigband-Format übertragen. Die permanente Weiterentwicklung seiner Klangsprache zu einem Amalgam aus unkonventionell generierten eigenen musikalischen Themen, traditionellen Zitaten und vor allem freien Improvisationen, deren Interaktion und Zusammenführung oft nur über das Klangbild bestimmter Instrumenten-Kombinationen strukturiert wird, ist ein Verdienst von jazzhistorischem Ausmaß. 2006 gab es zum 40jährigen Bestehen des Ensembles bei Enjoy Jazz ein Konzert, an dessen Rande das folgende Gespräch stattfand.  

 

Lassen Sie uns zunächst über Globe Unity und seine vier Jahrzehnte umspannende Geschichte sprechen. Welches waren rückblickend die einschneidenden Entwicklungsphasen des Ensembles?

Alexander von Schlippenbach: In der Frühphase, also von 1966 bis 1970, als wir eigentlich nur Stücke von mir gespielt haben, gab es zum Beispiel eine recht intensive Bindung an Donaueschingen. Danach haben wir unsere Entwicklung noch stärker selbst in die Hand genommen. Zum Beispiel haben wir eng mit den Kollegen aus Wuppertal zusammengearbeitet, die damals angefangen haben, selbst Konzertreihen aufzubauen und dafür Gelder zu akquirieren. Das war deshalb wichtig, weil dadurch die Produktionsmittel in unseren Händen lagen und wir selbst Schallplatten produzieren konnten, ohne auf das Angebot einer Plattenfirma warten zu müssen. Das war ein sehr entscheidender Schritt für uns, diese neu gewonnene Unabhängigkeit vom Rundfunk und dem noch sehr amerikanisch ausgerichteten Musik- und Medienbusiness. Diese Phase dauerte rund zehn Jahre. Sie endete durch die Trennung von Peter Kowald, der sich dann ja mehr in Richtung der sogenannten Weltmusik bewegt hat. In dieser Zeit haben wir auch die drei Platten für ECM gemacht, die uns natürlich noch bekannter gemacht haben. 

Wobei in Sachen Bekanntheit vermutlich auch das Goethe-Institut eine wichtige Rolle gespielt hat.

A.v.S: Oh ja. Das wurde ab Mitte der 1970er-Jahre für uns sehr bedeutsam. Der damalige Direktor des Goethe-Instituts in München, Drews, hatte ein großes Interesse an der Band und hat uns über einen Zeitraum von zehn Jahren buchstäblich um die halbe Welt geschickt. Da gab es z.B. eine mehrwöchige Asien-Tournee, an die unter normalen Umständen gar nicht zu denken gewesen wäre. So etwas verschafft einem natürlich eine gewisse Popularität.

In ihrer kompositorischen Arbeit für Globe Unity haben Sie sehr stark den Solisten zugearbeitet. 

A.v.S: Das ist wahr. Dabei darf man aber nicht vergessen: Wir haben unsere Musiker eigentlich immer schon nach ihrer spezifischen „Brauchbarkeit“ für unsere Musik ausgesucht bzw. nach entsprechend profunden Empfehlungen. Globe Unity war immer ein Ensemble der Persönlichkeiten. Man könnte sicher leicht meinen, die Musiker seien unter konzeptionellen Gesichtspunkten ausgewählt worden, aber das stimmt nicht. Das Konzept stand ja eh, dass wir nicht in der herkömmlichen Art improvisieren wollten, also z.B. über die Harmonie-Sequenzen.

Wie arbeiten Sie eigentlich ihre Ideen aus?

A.v.S: Da hat sich über die Jahre wenig geändert. Teilweise wird die konventionelle Notenschrift benutzt, teilweise werden Spielanweisungen gegeben, die eher semantischen Charakter haben, wobei bestimmte Zeichen bestimmte Bewegungsabläufe suggerieren. Im Grunde benutzen wir wirklich alles, was es heutzutage erlaubt, musikalische Gedanken zu notieren. Vielleicht nicht in dieser strengen seriellen Weise, wie das in der rein komponierten Musik üblich ist, da bei uns ja die Improvisation das Wesentliche ist. Aber auch die kann man steuern bzw. organisieren.

Ihre letzte Solo-Piano-Einspielung liegt rund 30 Jahre zurück. Ist die neue Aufnahme „Twelve Tone Tales“ für Sie persönlich so etwas wie eine Bilanz?

A.v.S: Ich habe durchaus immer wieder auch Solo-Konzerte gegeben, aber keine Aufnahmen gemacht, das stimmt. Ansonsten bin ich natürlich in einem Alter, in dem man schon mal ein bisschen Bilanz zieht. Andererseits hat mir ganz einfach die Zeit für Aufnahmen gefehlt. Ich arbeitete ja permanent an verschiedenen Projekten. Das begann schon vor Globe Unity mit dem Manfred Schoof Quintett. Später kamen dann meine eigenen Projekte hinzu: 1966 Globe Unity, ab 1970 das Trio mit Evan Parker und Paul Lovens, das ebenfalls noch existiert, dann, seit rund 15 Jahren, das Duett mit meiner Frau Aki Takase, und natürlich Monk’s Casino, das sehr erfolgreich lief. Dadurch kam das Solo-Spiel vielleicht ein wenig zu kurz.

Auf den „Twelve Tone Tales“ zeigt sich ein eigenartiges Paradox: Je logischer und mathematischer die, wie der Titel schon besagt, an der Zwölftonmusik ausgerichteten Stücke sich entwickeln, desto größer wird andererseits die gestalterische Freiheit.

A.v.S: Ja, das ist eine interessante Beobachtung. Es ist häufig so, dass die Dinge, von denen man zunächst denkt, sie legen einen fest, in Wahrheit frei machen. Weil sie einen Gedanklichen Ansatzpunkt darstellen, von dem aus man weitergehen kann und aus dem man wie aus einer Grundzelle Neues hervorbringen kann. Wobei ich mir schon von vornherein die Freiheit genommen habe, mich dem rein Mathematischen auch mal zu entziehen. Die serielle Musik hat diesen Aspekt vielleicht ein wenig überspitzt, indem die Kompositionen häufig einem rein mathematischen Kalkül entspringen, wobei alle Parameter – Tonhöhe, Intervall, Dauer, Dynamik – aus bestimmten Zahlenverhältnissen der Grundreihe genau berechnet und abgeleitet werden. So habe ich nicht gearbeitet. Die Bezugnahme auf die Zwölftonmusik allerdings war notwendig, um ohne konventionelle Themen mittels eines klar definierten Ausgangsmaterials einen neuen Klang in den Raum stellen zu können. Das war das Bestreben.

Daraus sind ja durchaus jazznahe Themen entstanden. 

A.v.S: Ja. Was die lntervallfolgen betrifft, können solche jazztauglichen Ideen tatsächlich auch aus Reihen konstruiert werden. Da muss dann natürlich noch ein gewisser rhythmischer Impetus dazukommen, der eben nur dem Jazz zu eigen ist. Insgesamt ergibt das aber genau die neuen Impulse, auf die es mir bei der Aufnahme ankam. Solche Arbeiten beeinflussen natürlich auch die Sprache auf dem Klavier. Sie erweitern sie fast zwangsläufig. Gerade auch in technischer Hinsicht. Zum Beispiel habe ich für beide Hände Sechs-Ton-Akkord-Kombinationen gefunden, mit denen ich mit der Zeit immer besser umgehen konnte. Inzwischen zählen sie zu meinem gespeicherten Materialfundus, über den ich nicht mehr nachzudenken brauche, sondern der jederzeit im Spiel abrufbereit zur Verfügung steht.

Ohne ein solches Zwischengedächtnis der Hand wäre, das zumindest sagt die Neurobiologie, professionelles Klavierspiel auf höchstem Niveau auch gar nicht denkbar.

A.v.S: Ja. Ich denke, genau das ist es, was man eine gute Technik nennt. Ich habe neulich sogar gehört, dass die motorische Feinarbeit der Hände außerdem einen positiven Einfluss auf die Gesundheit hat.

Die Zwölftonmusik gilt ja gemeinhin als besonders abstrakte Musik, was allein schon insofern ein Paradox ist, als Musik an sich eine abstrakte Kunst ist. Ist so gesehen, das, was Sie auf Ihrer neuen Solo-CD spielen, eine Art Meta-Abstraktion?

A.v.S: Wie Sie schon sagen: Musik ist immer abstrakt. Darüber hinaus denke ich: Wenn man mit neuen Mitteln arbeitet, kommt man fast zwangsläufig auf eine Meta-Ebene. Insofern haben Sie wahrscheinlich recht. Aber dieses Thema würde ich nicht überbewerten. Zumal es in der Musik eigentlich immer um dasselbe geht: einen musikalischen Gedanken in einer fasslichen Form an ein Publikum und ggf. die Mitmusiker heranzutragen, unabhängig von der Technik, der Notation oder dem Stil.