Cécile McLorin Salvant – “Jeder gute Song ist zuallererst eine Geschichte”

Die Biografie dieser Frau liest sich wie die Essenz aus mehreren Leben: Amerikanerin französisch haitianischer Abstammung, multikulturell und multilingual aufgewachsen. Sie hat in Frankreich Jura studiert, außerdem erst klassischen Gesang. Dann Jazz in Aix-en-Provence, singt, schreibt, komponiert, malt und illustriert – alles auf höchstem Niveau, hat die Thelonious Monk Competition gewonnen, ihr Debütalbum wurde „Album of the Year“ des Downbeat-Magazines sowie für einen Grammy nominiert. Und damit zum eigentlich Unfassbaren: Die Frau ist gerade mal 26 und, nach eigenem Bekunden, noch täglich auf der Suche. Wie substanziell und vollendet sie dabei bereits ist, belegt ihr aktuelles Album „For One To Love“. Das an musikalischer Klarheit wie Klugheit, originärem Gestaltungswillen und nahezu klischeefreien Auslagen kaum zu überbieten ist. Cécile Mclorin Salvant ist eine der herausragenden – im wahrsten Sinne des Wortes – Interpret:innen des zeitgenössischen Jazz und zugleich eine seiner größten Hoffnungen für die Zukunft. Wer den weiteren Weg dieser Künstlerin intensiv verfolgt, der macht sicher keinen Fehler. Wenn sich dieses überreiche Potenzial einlöst, können wir die Entwicklung hin zu einer der ganz großen Sängerinnen beobachten. Ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und dabei jedem Wort im Gesang eine eigene Bedeutung zuzuweisen, erinnert schon heute an die ganz Großen des Genres, an Sarah Vaughan, an Billie Holiday oder, in den gelassenen Momenten, an Abbey Lincoln, Grund genug, mit der Sängerin kurz vor ihrem Auftritt bei Enjoy Jazz ein längeres Telefonat zu führen. (Interview von 2015)

Was ich an Ihrer Musik besonders schätze, ist, dass es, unabhängig von der Komplexität von Melodie und Harmonien, sehr einfach ist, ihrer Idee zu folgen.

CMLS: Ich versuche tatsächlich, meine Musik so verständlich wie möglich zu halten. Ich mag es nicht, wenn man sich einen Song anhört und sich fragen muss, worum es da eigentlich gerade geht. Man hört dann auf die Melodie oder auf die gesangliche Gestaltung, aber jeder gute Song ist doch zuallererst eine Geschichte. Mir geht es darum, immer genau den Weg zu finden, der diese Story so deutlich wie möglich hervortreten lässt.

Manchmal ist die Story ja auch nur eine Stimmung.

CMLS: Ja, unbedingt. Das gilt vor allem für den Jazz, würde ich sagen. Wo sonst haben Sie die Freiheit, mit so vielen unterschiedlichen Stimmungen zu arbeite?. Er bildet eben sehr unmittelbar Leben ab. Das gilt auch für das Band-Gefüge. Auch hier entstehen atmosphärisch bedeutsame Bezüge und Verbindungen. Ich würde fast von Farben oder Kolorierungs-Möglichkeiten sprechen. So kommt es vor, dass sich die Stimmung eines Songs bei uns von einem Abend zum anderen komplett verändert. Das ist für mich eines der großen Privilegien und Vergnügen von Musik und von Kunst überhaupt: Man interpretiert eine bestimmte Geschichte aus sich selbst und macht sie dadurch für diesen Moment zu einem Teil von sich. Es ist sehr befriedigend und befreiend, mit diesen Ingredienzien zu spielen.

Sie verfügen über eine künstlerische Mehrfachbegabung. Wie wichtig ist es Ihnen, die verschiedenen Kunstformen zu verzahnen?

CMLS: Ich würde sehr gerne einen Weg finden, das zu tun. Im Moment sehe ich es so, dass ich zwar alles mache, dass ich singe, dass ich schreibe, dass ich male. Aber all diese Dinge wirklich zu der einen Ausdrucksform zu verbinden, dafür habe ich leider noch keine mich selbst völlig überzeugende Lösung gefunden. Manchmal kommen die einzelnen Elemente zwar zusammen, aber ich habe das Gefühl, das ist alles noch sehr zufällig. Ich würde das gerne besser steuern können.

Ihre Musik ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie Jazz im 21. Jahrhundert klingen kann. Aber sie hat auch starke Bezüge zur europäischen Musik, insbesondere zum Chanson.

CMLS: Chansons sind ganz einfach Teil meiner Geschichte. Ich habe natürlich das Glück, die Sprache zu sprechen. Es sind einfach wunderschöne Lieder. Und indem ich sie singe, bekenne ich mich letztlich zu einem wichtigen Teil meiner persönlichen Kultur.

Ihr eigenen Texte sind sehr besonders. Durch eine eigentümliche Reduktion sind sie praktisch klischeefrei, obwohl Sie über die häufigsten Themen schreiben: Liebe, Verlust, Sehnsucht. Schreiben Sie eigentlich gerne?

CMLS: Ja, ich liebe das Schreiben. Aber ich hasse das meiste, was dabei rauskommt. Ich liebe das Schreiben, obwohl es schwierig ist. Vielleicht auch, weil es schwierig ist. Jedenfalls brauche ich dafür sehr lange. Der Vorgang ist bei mir nicht gerade gut strukturiert: Manchmal ist ein Song fertig und während ich den nächsten schreibe, fällt mir auf, dass darin Wörter sind, die besser zum ersten Song gepasst hätten, was oftmals dazu führt, dass ich komplett von vorne anfange und etwas ganz Neues mache. Aber es macht insofern Sinn, als es immer mein Hauptziel ist, etwas zu schreiben, was am Ende völlig authentisch ist.

Ihre Texte, selbst die eher traurigen, münden fast immer in ein offenes Ende, das eine positive Wendung zumindest möglich erscheinen lässt.

CMLS: Im Wesentlichen sind die Texte autobiografisch, mit leichten Abwandlungen. Es soll dahinter natürlich niemand erkannt werden können. Aber ich beschreibe die Dinge, die ich durchlebt habe. Ich drücke mich selbst aus. Mit meinen Texten mache ich mich sozusagen zu meiner eigenen Therapeutin. Diese Texte sind sehr persönliche Orte für mich. Und ich freue mich, wenn Sie sie als offen empfinden. Denn sie sind letztlich ja Teil meiner großen Geschichte, die ja weitergeht. Als Teenager ist das Ende der Beziehung wie das Ende einer Welt, aber mit der Zeit erkennt man, dass in allem auch ein Licht und vor allem die Möglichkeit zu lernen verborgen ist. Ich habe Sängerinnen wie Billie Holiday immer dafür bewundert, dass sie einen im selben Song zum Lachen und zum Weinen bringen können. Das ist eine ganz große Kunst.

Ihr Gesang wirkt auf faszinierende Weise kontrolliert und trotzdem hoch intuitiv.

CMLS: Ja, das beschreibt es sehr gut. Die Disziplin kommt aus dem Üben. Aber auf der Bühne versuche ich dann, ganz der jeweiligen Situation zu folgen. Ich denke, beides ist nötig: höchste Konzentration und die Fähigkeit, sich in etwas hineinfallen lassen zu können. In meinem Fall kommt hinzu, dass ich ja zuerst klassischen Gesang studiert habe. Aber erst der Jazz gab mir die Freiheit und die Möglichkeit, meine Stimme im Einklang mit mir zu entwickeln. In der Klassik galt es als Problem, dass die Stimmlagen unterschiedlich ausgeprägt waren: in den tieferen Lagen war meine Stimme sehr dunkel und voll, in den höheren wurde sie dann eher dünn. Keine guten Voraussetzungen für eine klassische Karriere. Dabei war es gerade dieses Charakteristikum meiner Stimme, das ich immer mochte. Man kann wunderbar damit arbeiten. Ich mag es, diese klaren Highlights im Stimmbild zu haben. Obwohl ich damals wirklich auch gerne eine klassische Sängerin geworden wäre, war der Jazz für mich eine Befreiung. Denn der Jazzgesang muss nicht auf diese klassische Weise schön klingen. Er steht für eine andere, weniger technisch geprägte Form der Authentizität, die eine andere Art von Schönheit erzeugt.

Die Authentizität oder Glaubwürdigkeit kommt ja vor allem aus der Interpretation. Wenn Sie zum Beispiel das Wort „fog“ (Nebel) singen, dann sind Sie der Nebel. Mir kommt das vor wie die Übertragung des Prinzips des Method Acting auf den Gesang.

CMLS: Oh, danke sehr. Es freut mich wirklich, dass Sie das so sehen. Für mich ist das vielleicht sogar das Zentrum meines Selbstverständnisses als Sängerin. Ich bin geradezu besessen von Wörtern, ihren Bedeutungsebenen, ihrem Klang. Und dann versuche ich herauszuarbeiten, dass der Klang eines Wortes seine Bedeutung repräsentiert. Für mich war Billie Holiday die Großmeisterin dieses Verfahrens. Hören Sie sich nur mal an, auf wie viele verschiedene Arten sie das Wort „Love“ singt, dann werden Sie feststellen, dass darin eine jeweils ganz konkrete Lesart der Liebe liegt. Genau das interessiert mich. So tief in ein Wort einzudringen, dass es am Ende gelingt, den Zuhörer dieses Wort in seiner konkreten Bedeutung im Songkontext fühlen zu lassen. Billie Holiday hatte das so weitgehend perfektioniert, dass man noch nicht mal die Sprache sprechen muss, um ein Wort zu begreifen. Der Klang ist dann wie eine Meta-Sprache. Das finde ich unendlich spannend. Deshalb liebe ich es, Wörter durch den Klang quasi zu illustrieren.

Wer hat Sie neben Billie Holiday und Sarah Vaughan noch beeinflusst?

CMLS: Insbesondere auch Louis Armstrong, Blossom Dearie, Betty Carter, Abbey Lincoln und Carmen McRae. Aber ich werde inzwischen sehr oft nach Sarah, Billie oder Ella gefragt. Vor allem nach Sarah, weil sie wirklich die erste Stimme war, für die ich mich nicht nur begeistert habe, sondern von der ich geradezu besessen war. Aber wenn man von Einflüssen spricht, dann muss man wirklich auf die ganze Liste schauen.

Apropos Einflüsse. Der Jazz ist ja inzwischen doch auch sehr akademisch aufbereitet und in der Ausbildung entsprechend verarbeitet. Was kann man heute noch an Neuem aus der Tradition ableiten?

CMLS: Die Geschichte des Jazz ist immer noch voller Aspekte, aus denen man lernen kann. Immerhin ist er erst rund 100 Jahre alt. Wir sind weit davon entfernt, ihn erschlossen zu haben, auch in seinen historischen Dimensionen. Ich finde es unglaublich, wie in dieser relativ kurzen Zeit ein derart hohes Niveau an Künstlertum entstehen konnte. Und der Jazz hat einen großen Vorteil: Er ist Fusion. Er führt ganz viele Stränge zusammen. Er hat seine Wurzeln in sozialer Ungerechtigkeit und Sklaverei, und viele der großen Musiker des Jazz haben diese Tradition insofern mitgeführt, als sie in der Musik ihre eigene bedrückende Lebenswirklichkeit zu transzendieren versuchten. Dieser Mix, nicht nur von Genres, sondern auch von konkreten Lebenssituationen und -erfahrungen, macht den Jazz ungebrochen so interessant. Ich habe mal gelesen, und fand das sehr interessant, dass der Jazz die afrikanische Tradition der Oral History mit der europäischen Tradition von Dekonstruktion und Revolution verbindet. Das finde ich einen spannenden Gedanken. Man kann im Jazz die Vergangenheit ehren und respektieren und sie gleichzeitig in etwas völlig Neues überführen.

 

Interview: Volker Doberstein